Das Geheimnis der Konfliktdynamik

Die verborgenen Fähigkeiten der Konfliktvermittler

Konflikte bedeuten Leben. Die Folge ihres Fehlens wäre Stillstand, weil die Motivation für den Wandel fehlt. Die Frage, ob aus akuten Konflikten Fortschritt oder Katastrophen resultieren, hängt maßgeblich von den handelnden Menschen ab. Daher ist der Umgang mit der Konfliktdynamik so bedeutend. Was unterscheidet jene, die hilfreiche Veränderungen bewirken, von den anderen? Diese Frage begleitet die Menschheit wahrscheinlich seit Beginn ihrer Existenz. Vermittlung in Konflikten zählt zu den informellen Verfahren. Daher liegt ihr Arbeitsfeld vielfach im Verborgenen. Die Betroffenen scheuen oft die Öffentlichkeit und bevorzugen eine Konfliktklärung im engen Kreis. Außenstehende Vermittler sind immer wieder an eine Schweigepflicht gebunden, so dass sie über konkrete Fälle gar nicht oder nur stark verallgemeinert informieren können. Daher sind evidenzbasierte und vor allem schriftliche Nachweise rar. Die vielfachen und sich oft wiederholenden Modelle über Konfliktmanagement täuschen ein gesichertes Wissen vor, das es in der Form noch nicht gibt. Konfliktbeteiligte stoßen immer wieder an die Grenzen ihrer eigenen Konfliktbewältigungskompetenzen, auch wenn sie über die Kenntnis wissenschaftlich fundierter Verhandlungsmethoden verfügen. Auch die gerichtliche Konfliktlösung kommt an ihre Grenzen, wenn beispielsweise die Entscheidungen von Gerichten oft nicht mehr klar einschätzbar und nachvollziehbar sind. Diese Erkenntnisse führten zur Gründung und Etablierung der Mediation als Beruf (Haft, 2009). Dennoch schaffte diese Entwicklung nur teilweise Abhilfe in der Frage der dokumentierten Vermittlung als ein wichtiges Verfahren zur Konfliktbearbeitung.

Der deutsche Historiker Hermann Kamp geht sogar so weit, dass er die Quellen als größten Feind der Geschichte des Vermittelns bezeichnet (Kamp, 2001, S. 10). Auch die internationale Enzyklopädie des Friedens aus Oxford verweist auf dieses Phänomen (Young, 2010, Vol. 2, S. 407 f). Aktivitäten von Friedensstiftern sind oft nicht als solche erkennbar, weil sie nicht immer direkt messbare Konsequenzen haben. Durch die Komplexität der Konflikte und deren Akteure entsteht im Rückblick kaum ein klares Bild, wer konkret welchen Beitrag zur Friedensstiftung leistete. Besonders kritisch ist die Diskrepanz der Vorstellungen geeigneter Maßnahmen von Theoretikern und Praktikern. Wie sich diese Erkenntnisse aus Völkerrechtskonflikten auch auf die Konfliktdynamik von Organisationen übertragen lassen, ist heute noch offen. Vertraulichkeit hat auch hier einen sehr hohen Stellenwert. Daher liegt der Schluss nahe, dass auch in diesem Fall die Handhabung und der Erfolg in der Konfliktarbeit nur sehr selektiv in die Öffentlichkeit dringen. In der Folge erscheint die Arbeit von Vermittlern, Friedensstiftern oder Mediatoren wie ein Geheimnis. Ein Blick in ihr Leben und ihre Arbeitsweise bringt Denkanstöße für das eigene Umfeld. Dabei ist es unabhängig, ob Menschen vor mehreren Jahrtausenden lebten oder heute. Die Auseinandersetzung mit Vermittlern der Gegenwart lässt erkennen, dass es Dynamiken gibt, die in allen Lebensbereichen auftreten, auch wenn sie Welten voneinander entfernt scheinen. Eine davon ist das Paradoxon des Friedens. 

Die vielfältige Kunst des Friedens

So wie der Begriff ‚Frieden‘ ist auch ‚Friedensstiften‘ ein großes Wort. Eine bekannte Tatsache ist es, dass sich oft auch in einem Krieg jeder als Friedensstifter darstellt, auch wenn er Massen gegen andere aufhetzt. Eine weitere Problematik dabei ist der Eindruck, dass Krieg der einzige Anlass ist, als Friedensstifter tätig werden zu können. Daher ist es immer ein Wagnis, sich näher damit auseinander zu setzen. Es scheint einfacher zu sein, Frieden und Krieg aus unserem Alltag zu verbannen. Dies entspricht nur leider nicht unserer Realität. Es gibt Nervenkriege, Handelskriege, Prozesslawinen, aber auch Betriebsfrieden oder den inneren Frieden. Nicht nur Organisationen und Menschen der Rüstungsindustrie bauen ihre Existenzgrundlage darauf auf, dass es ‚Kriege‘ auch im Alltag gibt. Trotzdem verursacht auch nur die ansatzweise Erwähnung des Wortes in Organisationen eine deutliche Abwehrhaltung. Doch auch stetiger Frieden scheint bei näherer Betrachtung unserer Sprache kein Allheilmittel zu sein. Vor allem Friedfertige vermitteln den Eindruck, dass sie mit allem einverstanden sind und laufen daher Gefahr, übervorteilt zu werden. Daher scheinen sie vor allem für Führungspositionen eher weniger gut geeignet zu sein. Dahinter steckt die naheliegende Befürchtung, dass ein Verzicht auf eigene Vorteile auch ein Nachteil der jeweiligen Organisation ist. Die Stigmatisierung von Frieden und Krieg erreicht somit die ganze Gesellschaft. Das Paradoxon des Friedens beinhaltet die nahezu unerfüllbare Sehnsucht nach Frieden. Während sich die Schlachtfelder der Gewalt, des Kampfes und des Krieges verschieben, wird Frieden zwar gefordert, aber gleichzeitig Friedfertigkeit als Schwäche angesehen. 

Ein gutes Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung mit Mobbing. Seitdem der deutsch – schwedische Arzt und Psychologe Heinz Leymann den Begriff im Arbeitsleben salonfähig machte, erfreut er sich ständig wachsender Bedeutung. Die Ausgrenzung durch gezielte Angriffe ist heute durchaus auch mit Kriegshandlungen zu vergleichen. Auch die ‚Bekämpfung‘ von Mobbing erinnert unweigerlich an den Aufruf mancher Kriegsherren. Die rechtliche Abwicklung bei Mobbing erfordert die Klärung einer Schuldfrage. Dabei geht es um die Beweisführung, ob jemand entsprechende Handlungen setzte oder nicht und ob die zuständige Führungskraft dies duldete oder nicht. Eine Eskalation des ursprünglichen Konflikts ist dabei vorprogrammiert. Manchmal sehen sich Kläger auch mit der Gegenklage der Verleumdung konfrontiert. Eine weitere Zusammenarbeit der Beteiligten unter günstigeren Rahmenbedingungen wird dadurch sehr erschwert. Ist eine Versetzung innerhalb desselben Betriebs nicht möglich, so bleiben als letzte Auswege die Trennung vom Arbeitgeber und möglicherweise der Anspruch auf Schadensersatz. Durch das Recht soll die durch den Mobber ausgeübte Gewalt durch die – Androhung der - Gewalt des Gerichts kompensiert werden. Angriff und Verteidigung werden dabei nicht mit Pistolen oder Schutzschildern geführt, sondern mit Beweisen und deren Glaubwürdigkeit. Wechselseitige Verletzungen finden dennoch statt – oft auch beabsichtigt. Die Dynamik in diesen Fällen erinnert an jene von Ländern, die Kriege miteinander führen. Gemeinsam haben beide Ereignisse die Verlagerung der Aktivitäten. Die Analyse, welche Ursache zu dem Ausgangskonflikt führte, wird maximal ein Nebenschauplatz. Dominierend wird das Kräftemessen, einmal mit militärischer Stärke, das andere Mal mit rechtswirksamen Argumenten. Ob dadurch für zumindest eine der Parteien auch ein Gewinn zu realisieren ist, sei dahingestellt. Sind die Beteiligten – mit oder ohne externe Unterstützung – in der Lage, den wahrgenommenen ‚Mobbing‘-Konflikt als gemeinsamen Arbeitsauftrag zu erkennen, so besteht zumindest die Möglichkeit, dass daraus neue Umgangsformen miteinander entstehen können. 

Konflikte als Bindeglied zwischen Frieden und Krieg

Sowohl auf nationaler Ebene als auch im betrieblichen Kontext herrscht die Meinung vor, dass Frieden und Krieg nahtlos ineinander übergehen. Das würde bedeuten, dass die Abwesenheit von Frieden automatisch Krieg und die Abwesenheit von Krieg logischerweise Frieden wären. Die vereinfachte Annahme übersieht, dass es auch Zwischenzeiten gibt, die weder Krieg noch Frieden sind. Diese kennzeichnen sich durch Menschen, deren wahrgenommene Bedürfnisse einander widersprechen. Wir sprechen in dem Fall von einem Konflikt. Er steht zwischen dem Frieden und dem Krieg. Durch die heutige Vielfalt von möglichen Bedürfnissen gibt es aktuell weitaus mehr Möglichkeiten, dass diese auch im Widerspruch zueinander stehen. Konfliktzeiten sind daher die Regel. Nur im Ausnahmefall gelingt es uns, alle wesentlichen Bedürfnisse zu befriedigen und daher einen Zustand des Friedens zu erreichen. Dennoch sind Konflikte nicht mit Kriegszuständen zu verwechseln. Im Krieg ist es die vorrangige Absicht von zumindest einer Partei, den anderen zu verletzen oder gar zu vernichten. Die Ursachen von Konflikten treten in diesem Fall in den Hintergrund. Der ‚Stärkere‘ will dem ‚Schwächeren‘ durch eine ausgeklügelte Strategie, sowie Kampf- und Drohhandlungen zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Auch gilt es hier zu beweisen, wer mehr Macht über den anderen hat. Im Gegensatz dazu geht es bei der Konfliktbewältigung primär um die Frage, wie vorhandene Bedürfnisse geregelt werden können. Dabei ist es weitgehend unerheblich, wie bei diesem Prozess die Kräfte verteilt sind oder wer Recht oder Unrecht hat, wenn alle Grundbedürfnisse erfüllt werden können.

Im oben erwähnten Mobbing ist die Ausgangslage meist so, dass jemand mit einem anderen nicht mehr zusammenarbeiten möchte, obwohl dies von der Arbeitsorganisation so vorgesehen ist. Das muss nicht von vornherein eine Situation sein, in der bereits bewusste Verleumdungen oder Ausgrenzungen stattfinden. Manchmal sind sich Menschen auch nicht im Klaren, was ihre Handlungen bei anderen bewirken. Suchen die Betroffenen gezielt nach Ursachen dieser Situation, so haben sie eine gute Chance, die Angelegenheit friedlich zu regeln. Dann finden sie heraus, was beide brauchen, damit in Zukunft das gemeinsame Arbeitsleben wieder möglich ist. Sie verstehen und anerkennen die wechselseitigen Bedürfnisse, was immer auch der einzelne darunter versteht. Idealerweise können diese auch erfüllt werden. Diese mediativen Handlungen können auch dann stattfinden, wenn bereits Verletzungen bewusst als Maßnahme eingesetzt wurden.

Die zweite Handlungsoption bei Mobbing ist jene durch Zwang. Beispielsweise kann die zuständige Führungskraft dem vermeintlichen Mobber eine Kündigung oder eine Entlassung androhen oder diese auch umsetzen, wenn er seine Handlungen nicht unterlässt. Auch das kann dazu führen, die ursprüngliche Absicht zu verwirklichen. Ist zumindest einer der beiden Beteiligten danach nicht mehr im selben Arbeitsbereich tätig, so entfällt die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit. Oftmals erübrigen sich in dem Fall auch die ausgrenzenden Handlungen. So gesehen, kann auch hier als Ergebnis Bedürfniserfüllung eintreten. Dennoch hat diese Entwicklung eine andere Qualität. Durch die Ausübung von Gewalt, auch wenn diese durch die Führungsfunktion legitimiert ist oder gar durch das Recht gefordert wird, können die Beteiligten kaum gemeinsam herausfinden, was sie tatsächlich brauchen. Die Trennung von einem Kollegen oder einer Kollegin ist oft nicht die Lösung des Problems. Dieses kann auch bei einem nachfolgenden Beteiligten wieder auftreten. So gesehen nützt der Umweg über die Konfliktdynamik dazu, nicht nur persönliche Befindlichkeiten zu regeln sondern auch strukturelle Veränderungen zu initiieren. 

Unbestritten ist der fortschreitende Wandel im Arbeitsleben. Damit verbunden ist eine steigende Komplexität der Konflikte. Auch Rahmenbedingungen ändern sich rascher als je zuvor. Konflikte weisen dabei den Weg. Können wir sie so regeln, dass sowohl der Einzelne als auch die Organisation davon profitiert, dann steigt der Wohlstand. Ist die Regelung einseitig, dann ist der Wohlstand gefährdet. Es sind immer Menschen und ihre persönlichen Entscheidungen, die den Umgang mit Konflikten prägen. Die Systeme dahinter erzeugen Druck und Abhängigkeiten. Spezielle Krisensituationen kennzeichnen sich durch scheinbar ausweglose Sprachlosigkeiten. Dieses Dilemma verunsichert und macht Angst. Der Konflikt wird zur Gefahr, obwohl er auch eine Chance ist. Hier ist es die Aufgabe von Mediation und mediativen Handlungen, Lösungen zu schaffen, bei der alle Beteiligten gewinnen können und keiner mehr verlieren muss. 

Konfliktursache widersprüchliche Bedürfnisse  

Es gibt zwei gängige Theorien über die Ursachen für Konflikte (Kurtz, 2008, Vol. 1, S. 384 f.). Die traditionelle Variante betrachtet sie als einen unabänderlichen Bestandteil der menschlichen Natur. Das zweite, neuere Modell geht davon ab. So treten Konflikte entsprechend dieser Meinung nur dann auf, wenn Grundbedürfnisse der Menschen unerfüllt sind. Nun können Experten sicherlich gut darüber diskutieren, ob es jemals einen Menschen gab, gibt oder geben wird, bei dem – zumindest zeitweise – alle Grundbedürfnisse erfüllt waren, sind oder sein werden. Ein entscheidender Faktor für diese Fragestellung ist jene der Anerkennung von speziellen Grundbedürfnissen. Es geht dabei um nichts weniger als die Klärung, welche Bedürfnisse jedenfalls erfüllt sein müssen, damit wir fähig sind, Konflikte mit anderen Menschen und deren Bedürfnissen vernünftig zu regeln. Selbstverständlich hängen akute, konkrete Bedürfnisse von Menschen von ihrer aktuellen Lebenssituation ab und sind dementsprechend vielfältig. So ist ein dringendes Grundbedürfnis eines hungrigen Menschen sicherlich die Nahrungsaufnahme. Ist diese mangels Vorräte gefährdet, ist das jedenfalls ein vitaler Konflikt. So möchte er gerne etwas essen, hat aber keine Möglichkeit dazu. Im schlimmsten Fall hat er Existenzängste, weil er um sein Leben fürchtet. Jemand, der satt ist und eine gefüllte Speisenkammer hat, wird es kaum als Konflikt empfinden, dass er nicht unmittelbar seinen Hunger stillen kann.   Die interessante Frage in der Auseinandersetzung mit Grundbedürfnissen ist jene, ob es welche gibt, die unabhängig von jeweiligen Lebenssituationen sind. Dazu gibt es unterschiedliche Theorien. Die bekannte Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow gilt heute wissenschaftlich als überholt (Kurtz, 2008, Vol. 1, S. 384 ff). Dennoch wird bei dem Thema immer wieder auf sie verwiesen. Entgegen der aktuell vorherrschenden Meinung, dass es viele unterschiedliche Grundbedürfnisse gibt, verweist Imre Márton Reményi auf drei, die unser psychisches Wohlbefinden nachhaltig beeinflussen: Klarheit, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung (Hauska, 2015, S. 175 ff.). Er leitet diese aus den Überlegungen von Freud, Frankl, aber auch dem Werk ‚Suggestion‘ von Pawlowski und Riebensahm ab. Diese Ergebnisse Reményis decken sich zum großen Teil mit den Erkenntnissen der amerikanischen Psychologen Ryan und Deci. Deren Artikel über die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse (Ryan, Deci, 2000) ist der im Jahr 2015 mit mehr als 1000 Einträgen der am häufigsten zitierte Artikel des Social Science Citation Index zum Stichwort 'Human needs’. Interessanterweise finden sich weder die Darstellungen von Reményi noch jene von Ryan und Deci in gängigen Überblickswerken der Psychologie im deutschen Sprachraum (z. B. Colin, 2012).

Erfüllte Grundbedürfnisse ermöglichen ein zielgerichtetes, befriedigendes, im Idealfall auch beglückendes Leben. Menschen können in diesem Fall die an sie gestellten Aufgaben gut bewältigen. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche und können sich dabei selbst auch verwirklichen. Bereits Siegmund Freud führte ein gesundes Leben auf drei Fähigkeiten zurück: Arbeitsfähigkeit, Liebesfähigkeit und Genussfähigkeit. Die erste Fähigkeit beinhaltet die Erbringung von Leistungen. Die zweite bedeutet das Vermögen, mit bestimmten Gruppen oder Personen in Liebe verbunden zu sein. Die Genussfähigkeit bezieht sich auf die Möglichkeit, erbrachte Aufgaben und die Bindung zu anderen Menschen mit Freude erleben zu können und daraus Glücksgefühle zu erschaffen. Viktor Frankl ergänzt das Modell von Freud mit der Hingabe. Die Hingabe zu einer Aufgabe ist die Arbeitsfähigkeit oder Berufung. Die Hingabe an einen Menschen oder eine Menschengruppe nennt er Liebe. Klarheit beinhaltet das Grundbedürfnis des ‚Auskennens‘. Es bezieht sich auf das Wissen, welche Aufgaben und Erwartungen  zu erfüllen sind. Haben Menschen Klarheit, ist es ihnen genau bewusst, welche Konsequenzen ihre Handlungen nach sich ziehen.

Klarheit erlaubt Menschen die Wahrnehmung vorhandener Rahmenbedingungen und Gestaltungsoptionen. Die Zugehörigkeit bezieht sich auf die Liebesfähigkeit. Sie umfasst die Möglichkeit, sich bestimmten Menschen und Gruppen freiwillig und mit Freude anzuschließen. Im Rahmen der Zugehörigkeit können wechselseitige Vertrauensbeziehungen entstehen. Das daraus entstehende Gefühl der Verbundenheit und Geborgenheit umfasst zwei Aspekte. In einer Gruppe mit einem starken Zugehörigkeitsgefühl erleben sich Menschen als vertrauenswürdig, weil sie das Vertrauen von anderen Gruppenmitgliedern erhalten. Sie fühlen sich auch sicher, weil sie auch den anderen zutrauen, der Gruppe und somit auch den Einzelnen Vorteile zu verschaffen. Das Grundbedürfnis der Autonomie oder Selbstbestimmung bezieht sich auf Entscheidungsfähigkeit und -freiheit. Dabei ist es unabhängig, ob es um die Auswahl des Partners oder der Arbeit geht. Sie beinhaltet auch die Entscheidung, welche Partnerschaft ein Mensch überhaupt eingehen will oder ob er eine Erwerbstätigkeit anstrebt. Ist zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr als ein Grundbedürfnis unerfüllt, so entsteht Angst. Menschen in diesem Zustand sind leichter zu manipulieren und neigen eher zu extremem Verhalten, wie Aggression oder Flucht.



Es gibt keine 100 %ige Selbstbestimmung und auch keine 100 %ige Zugehörigkeit. Menschen unterliegen Zwängen und auch bei einer guten Beziehung zu anderen aber auch bei der optimalen Aufgabe gibt es Dinge, die einem missfallen. In diesem Fall geht es um die Bereitschaft, auf eigene Wünsche aufgrund von gemeinsamen Aktivitäten zu verzichten. Diese Rücksichtnahme aufeinander steht im Gegensatz zu der einseitigen Forderung, genau das zu tun, was einer aktuell möchte. Natürlich wäre auch eine einseitige Handlung möglich, dann würde jemand eindeutig Autonomie gewinnen, aber Zugehörigkeit verlieren. Jedes der drei Grundbedürfnisse Klarheit, Selbstbestimmung und Autonomie verlangt den Menschen etwas ab. Will ein Geschäftspartner jedenfalls in ein Projekt investieren und der andere lehnt dies kategorisch ab, dann entsteht bei beiden Unklarheit über die eigene Zukunft. Damit ist in dem Moment jedenfalls bei beiden ein wesentliches Grundbedürfnis unerfüllt. 

Besonders wichtig ist die Klarheit darüber, unter welchen Voraussetzungen wir uns überhaupt zugehörig fühlen können. Dies ist nur dann möglich, wenn die maßgeblichen eigenen Bedürfnisse nicht verletzt werden. Welchen Grad an Zugehörigkeit, aber auch Selbstbestimmung Menschen in ihren Beziehungen wünschen bzw. erreichen liegt in der individuellen Abstimmung zwischen ihnen. Dabei geht es vielmehr um eine ganz persönliche Auseinandersetzung zweier Menschen miteinander als um eine gesellschaftliche Vorgabe. Vor allem geht es dabei um die Schaffung von Mehrwert und höherer Lebensqualität durch ein gemeinsames Wirken. Darüber hinaus geht es aber auch um die Frage, welche kollektiven Normen von einzelnen verletzt werden können, ohne dass sie zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen. 

Mediative Organisationsentwicklung

Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bedürfnissen macht sich auch die mediative Organisationsentwicklung zunutze. Um mit notwendigen Änderungen Schritt halten zu können, sind innerbetriebliche Anpassungen heute öfter erforderlich als früher. Daher kommt der Organisationsentwicklung nun eine weitaus größere Bedeutung zu. Die Palette reicht von Identitätswandel über die Erneuerung von Produktangeboten bis hin zu der Frage, mit wem mehr oder weniger kooperiert wird. Die mediative Organisationsentwicklung orientiert sich dabei sowohl an den individuellen als auch den kollektiven Bedürfnissen (Hauska, Jeschonek, 2014).   

Üblicherweise herrscht die Annahme, dass in einer Organisation kollektive Bedürfnisse gegenüber individuellen priorisiert werden müssen. Diese Vorgabe hebt sich in der Betrachtung der Bedürfnisse Klarheit, Selbstbestimmung und Zugehörigkeit weitgehend auf. Nicht nur der Einzelne, sondern auch die Organisation braucht Klarheit darüber, wer sich mit aktuellen aber auch zukünftigen kollektiven Werten und Handlungen soweit identifizieren kann, dass er oder sie sich als Person noch wiederfindet. Denn nur so können vorgegebene Ziele realistischer umgesetzt werden und laufen nicht Gefahr, durch Verweigerung oder Aussitzen torpediert zu werden.

Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung davon, wie sein eigenes Leben aber auch jenes seiner Umwelt besser sein könnte, als es aktuell bereits ist. Diese Vision sind seine Ziele, für die er auch bereit ist, seinen persönlichen Beitrag zu leisten. Die Triebkraft zur Erreichung der Ziele ist die eigene Motivation, die mit vorhandenen Werten in Einklang zu bringen ist. Je mehr sich jemand im gelebten Leitbild wiederfindet und sich mit den vorgegebenen Zielen identifizieren kann, desto höher wird die innere Bereitschaft einzelner sein, außerordentliche Leistungen für die Organisation zu erbringen. Je größer die Abweichung von individuellen und kollektiven Vorstellungen ist, umso eher muss die Organisation die eingeforderte Leistung mit Kompensationszahlungen ausgleichen.  Ist klar, dass wichtige individuelle Ansprüche in dem vorhandenen oder angestrebten Umfeld nicht mehr erfüllt werden können, ist auch eine einvernehmliche Trennung einfacher. Denn dann wird sie für die Organisation ein Gewinn sein, weil sie bei Bedarf diesen Mitarbeiter durch einen neuen ersetzen kann, der den Erfordernissen eher entspricht. Aber auch der scheidende Mitarbeiter gewinnt die Freiheit, sein Leben in Zukunft mehr nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten zu können.   

Die Nutzung der Konfliktdynamik

Widersprüchliche Bedürfnisse beinhalten Chancen und Risiken. Menschen können aus ihnen sinnvolle Veränderungen ableiten und umsetzen. Sie können aber auch Zerstörung bewirken. Widerstand motiviert zu Handlungen, die im Fall der Gleichförmigkeit nicht in der Form möglich sind. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit kann dabei wohl nur jeder nur für sich eindeutig beantworten. Will jemand die Konfliktdynamik für sich nutzen, so ist die Beschäftigung mit den Handlungen anderer Menschen und deren Konsequenzen unumgänglich. Durch sie ist eine umfassendere Lernerfahrung möglich als dies durch abstrakte Modelle gegeben ist. Auch wenn Rahmenbedingungen selten komplett ident sind, so zeigen sich hier die Dynamiken im Umgang mit Widersprüchen am unmittelbarsten. Dadurch kann die Auswahl eigener Umgangsformen mit Konflikten überdacht und gegebenenfalls adaptiert werden. Die Nutzung der Konfliktdynamik wird trotzdem ein lebenslängliches Lernfeld bleiben. Das macht sie spannend und doch ein Stück besser durchschaubar.

Literatur

Collin et al., Psychologie, Dorling Kindersley, London,2012.
Fritjof Haft, Aus der Waagschale der Justitia – eine Reisedurch 4000 Jahre Rechtsgeschichte, Beck im dtv,4. Auflage, 2009.
Elvira Hauska, Oliver Jeschonek: Veränderungen gesundmanagen, Sichere Arbeit 5/2014
Elvira Hauska, Zur Kunst des Friedens, Novum Verlag 2015
Hermann Kamp, Friedensstifter und Vermittler imMittelalter, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001.
Lester Kurtz (Hg.), Encyclopedia of violence,peace & conflict, 2. Ausgabe, Elsevier, 2008.Ryan, Deci, Self-Determination Theory and the Facilitationof Intrinsic Motivation, Social Development and Well Being,American Psychologist, Vol. 55, No. 1, 2000,S. 68–78.
Nigel J. Young (Hg.), The Oxford InternationalEncyclopedia of Peace, Oxford University Press, 2010.


Zusammenfassung

Die Autoren zeigen anhand dieses Beitrags, dass Vermittlung als ein wichtiges Verfahren zum Umgang mit der Konfliktdynamik, oft im Verborgenen abläuft. Daher erscheint es wie ein Geheimnis, obwohl es bereits viele Modelle und Publikationen dazu gibt. Zum besseren Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen einzelner Vorgehensweisen empfehlen sie die Auseinandersetzung mit dem Leben und Wirken von Menschen, die heute aber auch in der Vergangenheit vermittelnd tätig sind und waren. Konflikte sind als Bindeglied zwischen Frieden und Krieg nicht nur zwischen Völkern, sondern auch im Alltag von Organisationen zu finden. Daher übertragen sie Erkenntnisse aus der Friedensforschung auch auf betriebliche Ereignisse. Dabei setzen sich die Autoren mit mediativer Organisationsentwicklung auseinander – jenem Veränderungsprozess, der kollektive als auch individuelle Bedürfnisse in Einklang bringt. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Konzentration auf wenige, dafür aber grundlegende Bedürfnisse. Die Autoren verweisen dabei auf ein Motivationsmodell, das in der Wissenschaft zwar anerkannt ist, aber in der deutschsprachigen Literatur noch kaum Eingang fand.

Schlüsselbegriffe

Ursachen und Wirkungen der Konfliktdynamik, Paradoxon des Friedens, Motivationsmodell, Grundbedürfnisse