Wie Führung Führung lernt: Über das Tanzen, Radfahren und Singen

Seitdem die sogenannte "Krise" im vergangenen Herbst für die Öffentlichkeit wahrnehmbar und zum Thema wurde, reagieren Organisationen auf zwei grundlegend unterschiedliche Weisen auf die Veränderungen:

  • Die einen setzen den Rotstift an und streichen radikal alle Ausgaben, die kurzfristig Ersparnisse bringen: Bildungskosten, Reisekosten, externe Berater, Marketing.
  • In anderen Organisationen denkt und entscheidet man mit mehr Weitblick und investiert trotz schwieriger Ertragslage gerade jetzt. Dabei ist die Entwicklung der Qualität der Führung ein zentrales Thema.

Als Berater freuen wir uns über letztere Entwicklung und wir stimmen zu: jetzt ist der Moment, inne zu halten, sich auf die Zukunft einzustellen und Maßnahmen zu setzen. Jetzt ist aber auch der Moment, vieles zu hinterfragen und neu zu denken.

So erfreulich es ist, dass jetzt wieder einiges unternommen wird, um Führung in den Mittelpunkt von Lernprozessen zu stellen, so kritisch sehen wir die Tatsache, dass Organisationen versuchen, die alten Modelle und Methoden von Führung weiter zu pflegen, anstatt gerade jetzt inhaltlich und methodisch neue Wege zu gehen.

Dieser Zugang stimmt uns nachdenklich, denn zum einen gehen wir davon aus, dass

  • die sogenannte "Krise" nicht zuletzt eine Krise der (politischen, wirtschaftlichen und kulturellen) Führung ist, und dass daher ein neues Verständnis von Führung entwickelt werden sollte, wenn man aus dieser Krise etwas lernen möchte; und dass zum anderen
  • viele der üblichen Lernformen von Führung – vor allem die seminaristische Trennung von Denken und Handeln - ebenfalls aus einer Denkwelt vergangener Zeiten stammen und einer Revision bedürfen.

Daher erscheint es uns jetzt der richtige Zeitpunkt zu sein, sowohl die Bilder und Grundannahmen über Führung zu revidieren als auch die Formen des Lernens an diese neuen Bilder anzupassen.

Neue Bilder von Führung

Unser Verständnis von Führung haben wir bereits an anderer Stelle ausführlich beschrieben, vor allem in: Ruth Seliger: Das Dschungelbuch der Führung. Carl Auer Verlag 2008.

Hier nur einige der wesentlichen Gedanken über Führung:

  • Führung ist ein eigener Beruf und nicht der Gegensatz zur "eigentlichen Arbeit"
  • Führung unterliegt professionellen Standards, die am jeweiligen aktuellen Wissen und den Aufgaben in der Organisation ausgerichtet sind.
  • Führung ist eine Dienstleistung an der Organisation und den Menschen, die dort arbeiten.
  • Führung braucht ein profundes Wissen über Organisationen, Menschen und Steuerung.
  • Führung muss immer über den Tellerrand schauen und sich mit Komplexität auseinander setzen.
  • Führung muss kontinuierlich unterschiedliche Interessen und Themen balancieren.
  • Führung ist kein Merkmal und keine Aufgabe einzelner Personen, sondern ein Merkmal von Organisationen und die Leistung eines Kollektivs von Führungskräften.
  • Führung hat die Aufgabe, sich selbst und die eigene Organisation so zu gestalten, dass dort professionelle Führung überhaupt stattfinden kann.
  • Führung vollzieht sich prinzipiell in Situationen der Unsicherheit und handelt daher immer in Unsicherheit.
  • Führung entscheidet – in jeder Bedeutung des Wortes.

Vor dem Hintergrund dieses Führungsverständnisses stellt sich für uns – und unsere Kunden – die Frage, wie Führung erlernt werden kann. Auch dazu wollen wir einige Überlegungen anstellen.

Der wichtigste Grundsatz:

Jedes Lernen orientiert sich sowohl an seinem Inhalt als auch an den lernenden Menschen.

So naheliegend dieser Gedanke auch klingt, so wenig wird er in unseren Schulen und auch in vielen Organisationen berücksichtigt oder umgesetzt.

Wenn der Lern-Inhalt "Führung" ist, dann muss Lernen den Eigenheiten dieses Themas entsprechen:

  • Führung ist praktisches Handeln, das auf der Grundlage von persönlichem Wissen, Können und einer professionellen Haltung stattfindet und sich auf Menschen, die Organisation und auf die eigenen Person richtet.
  • Führung ist eine Rolle, die in einem konkreten Kontext ausgeübt wird und von den Zielen, Aufgaben und der Kultur der Organisation bestimmt wird.
  • Führung ist eine Position in Organisationen, die von vielen Menschen besonders beobachtet wird und an die spezifische Erwartungen an Expertise, Macht und Ethik gerichtet werden.

Jedes Führungs-Lernen müsste diese Eigenheiten berücksichtigen und dafür jeweils geeignete Lernformen schaffen.

1. Führung ist Handeln – Führungs-Lernen ist reflektiertes Handeln:

Jede Praxis kann nur in der Praxis erlernt werden: man lernt Tanzen durch Tanzen, Radfahren durch Radfahren, Singen durch Singen. Es gibt keinen Weg, Schwimmen über Lesen zu lernen, Geographie erlernt man am besten durch Reisen, Sprache lernt man nicht durch Vokabel-Pauken, sondern durch Sprechen.

So wie in unserem Schulsystem nach wie vor versucht wird, im Klassenzimmer für das "Leben" vorzubereiten, so investieren Organisationen eine Menge Geld in Seminare (in 4 Sterne-Hotels), in denen Führung fernab der Praxis erlernt werden soll.

Um nicht das Kind mit dem Bade auszugießen:

Nur zu handeln allein bringt noch kein Lernen. Lernen entsteht durch die Reflexion des Handelns, also durch ein distanziertes Beobachten des eigenen Handelns aus einer neuen Perspektive und gestützt auf neue Parameter.

Führungs-Lernen ist aus unserer Sicht daher ein Prozess, in dem Handeln und Reflexion mit einander verbunden sein sollten.

Unsere Kritik an den derzeitigen Formen des Führungs-Lernens richtet sich auf die Trennung von Handeln und Reflexion:

  • Die tägliche Praxis des Führens wird kaum reflektiert, weil es dafür keine geeigneten Rahmen, keine dafür vorgesehene Zeit gibt. Wenn Führungskräfte aktiv sind, dann sollen sie "arbeiten", aber nicht über ihre Arbeit nachdenken.
  • Die Reflexion der Praxis findet weitab in Seminaren statt, in denen eine andere "Realität", die wenig mit dem Führungsalltag zu tun hat, ja in der man sogar die Realität ein wenig vergessen soll.

Das führt zum immer gleichen Problem des "Transfers" aus dem Seminar in die Praxis, das jede Organisation, jede/r TeilnehmerIn und jede/r TrainerIn kennt: wie kann das im Seminar aufgebaute Wissen zu einem Können in der Realität der Führungspraxis werden?

Wir setzen bei unseren Lernprogrammen seit vielen Jahren dort an, wo Führung stattfindet: bei den konkreten Aufgaben und Tätigkeiten des Führens.

Das Lernkonzept ist als "Action Learning" seit vielen Jahren bekannt und bewährt: Anhand konkreter relevanter Aufgabenstellungen (der obersten Führung) wird ein Lernprogramm für Führungskräfte eingerichtet, das sowohl erlaubt, die Aufgabe (gemeinsam) zu lösen, als auch das Führungsverhalten zu reflektieren. Inhaltliche oder methodische Inputs seitens der TrainerInnen ergänzen diesen Prozess.

Beinahe jedes Führungshandeln kann Ausgangspunkt für Führungs-Lernen werden: In der oberen Ebene können es Strategie-Prozesse, Leitbild-Prozesse, Change-Prozesse sein, anhand derer Führung entwickelt wird. In mittleren und unteren Ebenen können es konkrete Problemlösungen oder spezifische Führungssituationen sein, die reflektiert werden.

Wir haben uns auf ein Lernkonzept spezialisiert, in dem Führung mit Führung beschäftigt wird und dieses Tun kontinuierlich reflektiert und modfiziert.

2. Führung findet immer in einem Organisations-Kontext statt - ebenso Führungs-Lernen

So falsch, wie es ist, Handeln und Reflexion des Führens zu trennen, so falsch ist es, Führung als eine Tätigkeit zu verstehen, die ausschließlich den Personen, also den Führungskräften zugeschrieben wird.

Führung als persönliche Eigenschaft und Tätigkeit zu verstehen ist eine "schreckliche Vereinfachung" und eine unzulässige Verkürzung des Themas.

Jedes Führungs-Handeln ist in zwei unterschiedliche Kontexte eingebettet:

  • die Fähigkeiten und Talente der Personen, die führen
  • die Kultur und Struktur der Organisation, in der Führung stattfindet.

Führungshandeln verstehen wir als professionelle Tätigkeit von Personen, die Instrumente kennen und auf der Basis von Theorie und einer professionellen Haltung einsetzen. Führungshandeln ereignet sich zugleich in Organisationen, die Management-Systeme zur Verfügung stellen, die auf der Grundlage eines vereinbarten Leitbildes von Führung und innerhalb geeigneter Strukturen und gesteuert von den Werten und Prinzipien, also der Kultur der Organisation eingesetzt und beurteilt werden.

Wie Führung Führung lernt

Führungs-Lernen bedeutet daher, dass die Organisation an diesem Lernen ebenso beteiligt sein muss, wie die Personen. Das bedeutet konkret, dass alle erwünschten Führungs-Verhalten immer wieder darauf abgeklärt werden müssen, inwieweit

  • sie der vorhandenen oder der gewünschten Organisations-Kultur entsprechen: z.B.: die Organisation wünscht einerseits mehr partizipative Führung und mehr wertschätzende Haltung, die Kultur der Organisation hat aber den Wert der reinen Ziel- und Leistungsorientierung, die eher rücksichtsloses Konkurrenzverhalten fördert;
  • es ein Leitbild und daher ein Überprüfungs-Raster gibt, anhand dessen die Qualität von Führungs-Handeln bewertet werden kann,
  • die Entscheidungsstrukturen das gewünschte Führungshandeln überhaupt ermöglichen: z.B. wird "unternehmerisches Denken" von Führungskräften erwartet, zugleich sind die Entscheidungsstrukturen so engmaschig, dass es für die einzelne Führungskraft kaum etwas zu entscheiden gibt und sie nur umsetzen kann, was oben entschieden wurde;
  • die Führungskräfte entsprechende Instrumente und Systeme in der Organisation vorfinden, z.B. wenn von Führungskräften erwartet wird, dass sie Feedback geben und nehmen können, es dafür aber weder Zeit-Räume, Instrumente oder Lernmöglichkeiten gibt, tun sich die einzelnen Personen schwer mit diesem Anspruch.

Wenn Organisationen Führung entwickeln wollen, ohne sich den organisationalen Fragen zu stellen, scheitern alle Lernversuche.

Wir versuchen daher immer, die Organisation –im allgemeinen vertreten durch die oberen Management-Ebenen – ins Boot der Lernprogramme zu holen. Wo immer es uns gelingt, Vorstände und obere Manager dafür zu gewinnen, Führungs-Lernen auch Organisations-Lernen zu verstehen und es als ihre Aufgabe zu sehen, geeignete Rahmenbedingungen für exzellente Führung zu schaffen, haben Lerninvestitionen nachhaltige und positive Wirkungen gebracht.

3. Führung ist eine exponierte Position – Führungs-Lernen muss respektvoll sein

Inhaber von Führungspositionen werden generell beobachtet: jedes ihrer Verhalten wird als Maßstab definiert, an Standards gemessen und beurteilt.

Zugleich – oder gerade deshalb – werden an Inhaber von Führungspositionen immer Erwartungen gerichtet, die - zu recht oder zu unrecht, bewusst oder unbewusst - dazu führen, dass Führung zum kollektiven Idealbild wird.

Der Position wird im allgemeine Respekt entgegen gebracht. Von den Inhabern wird erwartet, dass sie sich der Position würdig erweisen: sie sollen alles wissen, alles können, alle Macht haben und immer das Richtige tun. Manche Führungskräfte glauben selbst, dass sie mit der Position diese Tugenden erworben haben: "Wem Gott ein Amt gibt…".Zweifellos aber fordern diese Positionen bestimmtes Verhalten, damit die Erwartungen der vielen Beobachter nicht enttäuscht werden.

Das bedeutet, dass die Inhaber von Führungspositionen besondere Lernkontexte brauchen, die ihrer Position gerecht wird.

Das Problem des Führungs-Lernen liegt nun darin, dass jedes Lernen die Gefahr der Kränkung birgt: Lernen verweist auf Nicht-Wissen oder Nicht-Können, Lernen erfordert, sich einem Lehrenden unter zu ordnen und Nicht-Wissen einzugestehen. Lernen birgt die Gefahr des Gesichtsverlusts. Aus diesem Grund geben Führungskräfte am Ende von Seminaren mitunter das Feedback, dass die Inhalte ohnehin vorher schon bekannt gewesen seien, eine "Auffrischung" waren und das es eben immer etwas geben, das man mitnehmen könnte.

Obere Führungskräfte begeben sich vielfach nur dann in Lernsituationen, die in jeder Hinsicht "weit weg" sind: am besten MBAs in den USA oder in der Schweiz.

Wir anerkennen die Gefahr des Gesichtsverlusts und der Kränkung von Führungskräften und versuchen daher, Lernen der Position angemessen zu gestalten. Dafür haben wir eine Reihe von Methoden, Haltungen und Prinzipien entwickelt:

  • Wenn Führungs-Lernen praktisches, konkretes und reflektiertes Handeln ist, dass ist der kränkungsanfällige Lernkontext dadurch sicherer, dass es keinen großen Unterschied zwischen Handeln und Lernen gibt. Learning by doing ist weit mehr als nur ein Spruch der Heimwerker. Wir schaffen Handlungs- und Lernkontexte, indem wir mit der Führung gemeinsam an ihren Aufgaben arbeiten.
  • Wir gestalten Lernsituationen über Führung zu einem Dialog zwischen Experten und nicht zu einem hierarchischen Machtgefälle zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden.
  • Obere Führungskräfte dürfen "heimlich" lernen. Wir verzichten darauf, dass Führungskräfte immer "bekennen" müssen, was sie nun gerade gelernt haben. Sie dürfen nach unserem Verständnis einfach klüger werden, ohne es jedem zu erzählen.
  • Wir bemühen uns, in der Organisation ein Klima zu fördern, in dem Lernen nicht als Defizit und Versagen stigmatisiert ist. Wenn das gelingt, dann sind Lernformen des kollegialen Austauschs, von offenem Feedback und hierarchie-übergreifender Reflexion möglich.

Die Hoffnung, die sich mit dem Ausbruch der "Krise" aufbaut, ist die Hoffnung auf ein neues Verständnis von Führung und damit von Führungs-Lernen. Führung war immer ein Spiegel seiner Zeit und seiner Kultur. Insofern ist jetzt die Zeit reif für ein Bild von Führung, das nicht an der einzelnen Person und ihren Bedürfnissen, sondern an der Gemeinschaft (Organisation) und dem Dienst an ihr orientiert ist. Führungs-Lernen hat die Aufgabe, diesen Wandel herbeizuführen und dafür vorzubereiten – also ihrer Zeit voraus zu sein.