Zu einem gemeinsamen Verständnis von „Wir“ – Mehr Erfolg durch agile Organisation
Eine wertschätzende Unternehmenskultur beeinflusst positiv die Arbeitszufriedenheit, Gesundheit und Produktivität der Beschäftigten. Davon ist Prof. Dr. Dr. Manuela Kesselmann überzeugt. Als Coach und Inhaberin des IZWA – Institut.Zukunft. Wirtschaft.Arbeit® und Professorin an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management gGmbH engagiert sich seit mehr als 20 Jahren für eine gesunde Arbeitswelt. Ein Interview über Agilität und notwendige mindsets in einer globalisierten Umwelt.
Frau Kesselmann, Sie moderieren die Fachkonferenz „New Work“ am 29./30. April in München – warum brauchen wir neue Formen des Zusammenarbeitens?
Im Rahmen der digitalen Transformation sind Unternehmen gefordert, neue Formen der Organisation, der Führung und Zusammenarbeit zu denken und auszuprobieren. Hier gibt es kein Patentrezept für alle, jedes Unternehmen muss seinen individuellen Weg finden und immer wieder ausrichten. Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit, Integration von Kunden und anderen Stakeholdern, Umgang mit technologischen Entwicklungen - all das ist nur möglich im Rahmen einer Unternehmenskultur auf Augenhöhe, in der die Potenziale der mitwirkenden Menschen zur Entfaltung kommen und Innovation und Kreativität entstehen können.
Mens sana in corpore sano lautet ein lateinischer Spruch: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – was brauchen wir grundsätzlich, um produktiv und kreativ sein zu können?
Der Spruch mag stimmen, aber aus jahrzehntelanger Forschung wissen wir längst, dass die psychische Gesundheit, die Arbeitszufriedenheit und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz die zentralen Faktoren für die Produktivität von Mitarbeitenden sind. Seit einigen Jahren nimmt die Potenzialentfaltung einen größeren Raum ein und ist aus heutiger Sicht einer der größten Treiber für die Kreativität und Produktivität von Menschen.
Reichen da nicht Schallschutz und Obstkorb? Wozu unbossing voranbringen, wenn es doch in den meisten Firmen klare Aufgabenverteilungen und Weisungsbefugnisse gibt?
Agile Organisationen sind nur dann erfolgreich, wenn sie sich schnell an Markt, technologische Entwicklung, Wettbewerb und Kundenbedürfnisse anpassen bzw. diese auch antizipieren können. Der Druck ist derzeit enorm. Hierarchische Organisationen, in denen beispielsweise Entscheidungsprozesse zur Lösung von Kundenproblemen erst durch die Hierarchie gespielt werden müssen, können diese Schnelligkeit und Kundenorientierung nicht gewährleisten. Dasselbe gilt für Produktinnovationen, die die Kreativität und die Ideen möglichst vieler benötigen. Andererseits haben wir mit dem Wertewandel in der Gesellschaft, getrieben auch durch die Generation der Digital Natives, Mitarbeitende, die auf Augenhöhe behandelt, gehört, ernst genommen und integriert werden wollen. In selbstorganisierten Teams legen die Mitglieder ihre Aufgaben selbst fest und entscheiden gemeinsam, so dass das herkömmliche Modell „einer entscheidet, was die anderen machen“ in den meisten Organisationen nicht mehr seinen Zweck erfüllt. Ein großes Missverständnis, das auch Ängste auslöst, ist allerdings, dass Hierarchien grundsätzlich abgebaut werden müssen. Dem ist nicht so. Einfach zusammengefasst können wir sagen, dass Hierarchien neu gedacht werden und jede Organisation sich die Frage stellen sollte: „welche Form von gelebter Hierarchie benötigen wir, um erfolgreich zu sein!“ Das impliziert eben auch ein neues Verständnis von Führung, die in agilen Organisationen eine zentrale Rolle einnimmt.
Stichwort Wertschätzung und Vertrauen: Können sie kurz etwas zu den Themen mindset sagen?
Kurz zum Thema mindset sprechen zu sollen, spiegelt die Unternehmensrealität. Dabei ist das Thema mindset das zentrale Thema der Neuen Arbeit und der Schlüsselfaktor für das Gelingen. Es wird jedoch in den Unternehmen, so meine Wahrnehmung, laufend genannt, aber ohne deren Tragweite und Bedeutung zu reflektieren und in der Praxis zu beachten. Unter mindset im Kontext agiler Zusammenarbeit verstehen wir die Denkweise, die (tiefen) Überzeugungen und die innere Haltung eines Menschen. Insbesondere die innere Haltung, das Menschenbild und Wertesystem sind in der Regel unbewusst und unreflektiert, prägen aber die tagtägliche Zusammenarbeit nachhaltig. So spielt es beispielsweise eine gravierende Rolle, ob eine Führungskraft davon ausgeht, dass sie ihre Mitarbeitenden anleiten, kontrollieren und motivieren muss oder ob sie die Talente und Potenziale jedes Einzelnen sieht und jedem das gleiche Maß an Vertrauen entgegen bringt. Weitere Beispiele für entwicklungsförderliche, innere Überzeugungen sind: „keine Entwicklung ohne Fehler“, „alle Menschen wollen eine Beitrag leisten und ihre Kompetenzen einbringen“, „der Kollege ist nicht faul, sondern er verhält sich aus bestimmten (Kontext-)Gründen so, dass ich sein Verhalten als faul bezeichne“, „Führung ist Persönlichkeitsentwicklung“, „auch kritisches Feedback benötige ich, um mich weiter zu entwickeln“. Letztlich ist jeder (!) Einzelne im Unternehmen gefordert, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, zu reflektieren und Feedback zur Selbstreflexion zu nutzen, um die eigene innere Haltung zu erkennen und bei Bedarf zu verändern, was nicht selten einen inneren Entwicklungsprozess beinhaltet. Selbstreflexion ist aus meiner Sicht eine Kernkompetenz von Führung und meiner Erfahrung nach von Führungskräften, unabhängig von der hierarchischen Position, bisher nicht gut geübt.
Gibt es wissenschaftliche Belege, dass Menschen produktiver und zufriedener sind, wenn sie eigenständig arbeiten?
Wir wissen aus zahlreichen, wissenschaftlichen Untersuchungen - und das bereits seit den 70erJahren des letzten Jahrhunderts -, dass Autonomie am Arbeitsplatz, der Handlungs- und Gestaltungsspielraum, den Mitarbeitende haben in Bezug auf ihre Aufgaben, zentrale Effekte auf die psychische Gesundheit und damit Produktivität haben. Neuere Untersuchungen zu selbstorganisierten Teams bestätigen diese Erkenntnis. So konnten wir in einer aktuellen Untersuchung zeigen, dass selbstorganisierte Teamarbeit zu mehr Mitarbeitermotivation und Arbeitszufriedenheit und damit Produktivität beiträgt. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
Wie kann man Mitarbeiter motivieren, Silodenken aufzubrechen? Was braucht die Führungskraft und was braucht der Mitarbeiter, um selbstständig arbeiten zu können?
„Aufbrechen wollen“ ist hier aus meiner Sicht schon ein ungeeigneter Zugang, der Begriff impliziert ja Druck. Das sogenannte „Silodenken“ hat sich über viele Jahrzehnte manifestiert, gefördert durch die Aufbauorganisationen, die ihren Zweck sehr gut erfüllten. In heute zunehmend komplexen, hochdynamischen, globalisierten Umwelten ist vernetztes Denken und Handeln ein Schlüssel für Erfolg. Anstatt also kulturelle Aspekte aufzubrechen, ginge es aus meiner Sicht darum, die Unternehmenskultur hin zu einem gemeinsamen Verständnis von „Wir“ weiterzuentwickeln und die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe im Alltag einzuüben. Das gelingt sehr gut über Strukturen, die vernetztes Arbeiten erfordern. Und das über die Bereichsgrenzen hinweg. So passiert Kulturwandel in der Praxis durch’s Tun. Das ist ein Entwicklungsprozess, der nicht von heute auf morgen gelingen kann. Hier geht es übrigens auch um die inneren Haltungen aller Mitglieder des Unternehmens. Workshops, in denen die Beschäftigten Absichtserklärungen auf Kärtchen notieren, sind meiner Erfahrung nach in der Regel nicht besonders nachhaltig. Räume zur Reflexion, zum Austausch und zur Gestaltung der Zusammenarbeit, in denen auch die nicht direkt bewussten Themen reflektiert werden, wie beispielsweise der (individuelle) Nutzen bzw. Wert von „Silodenken“ und auch die (individuellen) Ängste, die mit Verlust von Status einhergehen. Selbstorganisation erfordert zunächst einmal Selbstführung und Selbstverantwortung. Auch dies ist in den traditionellen Aufbauorganisationen oftmals nicht gefordert gewesen, so dass dies ebenfalls ein persönlicher und Team-Entwicklungsprozess ist. Mitarbeitende sollten sich meiner Ansicht nach auch frei entscheiden können, ob sie die persönliche Bereitschaft mitbringen, an sich zu arbeiten, um in selbstorganisierten Teams einen wertvollen Beitrag leisten zu können. Denn Selbstverantwortung zu übernehmen, bedeutet nicht selten auch Persönlichkeitsentwicklung. Dasselbe gilt für die Führungskräfte von selbstorganisierten Teams. Hier geht es darum, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das Team sein volles Potenzial entfalten kann. Die Führungskraft ist auch inspirierender Coach, der es versteht, gelingende Beziehungen zu gestalten. Dies ist eine hohe persönliche Anforderung, denen viele der heutigen Führungskräfte aus meiner Erfahrung derzeit noch nicht gewachsen sind.
Heißt „selbstständig“ in einer hochfrequent getakteten, digitalen Welt nicht auch „selbst und ständig“ zu arbeiten? Auf welche Warnzeichen muss eine Führungskraft achten, will sie die Potentiale ihrer Mitarbeiter entfalten?
Hier sind beide Seiten gefordert oder vielmehr jeder Einzelne für sich und in Achtsamkeit auch für das Team. Viel mehr, als bisher, gilt es aber für jeden Einzelnen, Selbstfürsorge zu lernen, anzuwenden und bei sich selbst Frühwarnsignale zu erkennen. Das gilt insbesondere für die zunehmende Selbstverantwortung im Job. Wichtig ist, für ausreichende Ruhepausen zu sorgen und auch Zeiten des Nichtstuns einzuplanen. Die meisten von uns haben zu viele Hüte auf, wollen alles und das möglichst perfekt. Hier hilft Fokus, das heißt, volle Konzentration während der Tätigkeiten und auch mal radikal ausmisten. Was ist wirklich wichtig und notwendig? Frühwarnsignale sind hierbei individuell, jeder sollte seine persönlichen kennenlernen: werde ich bei Belastung hektischer? Gereizter? Fange ich an, mich zurückzuziehen? Mache ich mehr Fehler? Hier gibt es sehr wirksame Werkzeuge für den Alltag, um diese Achtsamkeit zu trainieren und die eigene Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu steuern. Resilienz ist in diesem Zusammenhang die Schlüsselkompetenz der Zukunft. Für Arbeitsteams gilt dasselbe. Flow kann nur entstehen, wenn ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung herrscht, die Mitglieder sich in der Lage sehen, die Arbeit zu schaffen und beteiligt werden. In diesem Klima, das Talente fördert und Vielfalt würdigt, aber auch Konflikte konstruktiv gelöst werden, können Mitarbeitende ihre Potenziale entfalten.
Fazit: Wie sollen wir Individuen, jetzt, wo wir alle eigenständig und kreativ geworden sind, letztendlich zusammenarbeiten?
Die Frage würde so im Rahmen der Neuen Arbeit gar nicht gestellt werden, denn die Teams entscheiden immer wieder selbst, wie sie am besten zusammenarbeiten, damit sie bestmöglich kreativ und produktiv arbeiten können.
>> Auf Grund der aktuellen Entwicklungen des Corona-Virus wird die Konferenz New Work auf den 29./30. April 2021 verschieben. <<