Herausforderung Next Leadership
Dass im Kontext von Industrie 4.0, Digitalisierung und weiteren globalen Trends vor allem auch korrespondierende, neue Führungsansätze diskutiert und gefordert werden, steht außer Frage.
Aber wohin geht die Reise ganz praktisch, wenn Unternehmer und Unternehmen New- oder Next Leadership ausrufen?
Will man zu dem Thema nur etwas beitragen, weil alle etwas dazu sagen oder schreiben? Erkennt man den Handlungsbedarf für die eigene Organisation und startet einen Change Prozess nach altem Muster? Oder bricht man auf, experimentiert und schafft Keimzellen von New Work?
Aus unserer Beratungspraxis kennen wir die Gedanken und Maßnahmen von Unternehmern, Managern aber auch der betroffenen Führungskräfte.
Alle spüren, dass sich etwas ändern muss und wird. Die einen warten ab, was sich als best practice herausstellen könnte, die anderen diskutieren bereits intensiv über den Wandel und andere sind schon losgegangen und wollen möglichst schnell diejenigen einholen, die bereits weit vorne sind.
Es wird viel geschrieben über die Notwendigkeit, den Nutzen und die Vorteile von Next Leadership Ansätzen und viele prominente Experten wissen gut, was alles angepackt und verändert werden muss: Vertrauen aufbauen, Selbstverantwortung stärken, Freiheit und Fehler zulassen, wechselnde Führung nach Bedarf implementieren oder Führung sogar demokratisch wählen lassen. Zielsysteme und Budgets abschaffen, agile Formen der Kollaboration, neue Formen der Entscheidung, Schwarmintelligenz nutzen, Graswurzelbewegungen fördern, Start-up-Atmosphäre schaffen. Diese Liste ließe sich seitenweise fortsetzen.
Nun weiß aber der erfahrene Praktiker, dass dies alles (in der Praxis) nicht so einfach umzusetzen ist und auf „Change-Knopfdruck“ geschieht. Next Leadership hat mit Menschen zu tun und die lassen sich erfahrungsgemäß nicht ohne Weiteres umprogrammieren. Next Leadership bedeutet Kulturwandel und eine Kultur ändert sich nicht von heute auf morgen. Es sei denn, man würde direkt die Führungskräfte austauschen, wie es eine Expertin für Kulturwandel postuliert.
Insofern ist es wichtig, die Herausforderungen für Next Leadership zu betrachten, nicht um dann davor zu kapitulieren, sondern damit jeder weiß, woran er bei sich selbst und anderen arbeiten muss - und keinesfalls durch eine Anweisung von oben herab.
Die folgenden 5 wichtigen Herausforderungen laden zu einem Austausch darüber ein, wie diesen begegnet werden kann oder sogar schon erfolgreich begegnet wurde.
Herausforderung Nr. 1: Das politische System und ihr kulturprägender Einfluss
Während in den USA die Einführung eines ersten Ansatzes einer gesetzlichen Krankenversicherung heftig diskutiert wird, schließt man in Deutschland zunehmend jede noch so kleine Versorgungslücke mit staatlicher Reglementierung.
Es soll an dieser Stelle keine Bewertung erfolgen. Aber in einer Diskussion mit einem renommierten Kulturwissenschaftler wurde mir klar, dass es den Amerikanern gar nicht um die Krankenversicherung an sich geht, sondern um die Bevormundung des Staates und die zwangsweise Geldverteilung in ein System. Bereits an diesem einen Beispiel wird deutlich, wie unterschiedlich wir auf der Welt ticken und wie stark wir unsere deutsche Gründlichkeit und soziale Gerechtigkeit verinnerlicht haben. Wir hinterfragen gar nicht mehr, ob eine Überfürsorge des Staates nicht auch die Übernahme einer Selbstverantwortung für unser Leben und Wohlstand verhindert. Auf europäischer Ebene kumulieren sich diese Tendenzen und wir sehen, dass selbst linientreue „Spießbürger“ dagegen aufbegehren. Fernab einer politischen Debatte muss gesehen werden, dass Next Leadership auch bedeutet, gewohnte Denkmuster in Frage zu stellen und im interkulturellen Kontext kann man dies sehr gut üben, vorausgesetzt man ist offen für andere Sichtweisen.
Roswitha A. van der Markt hat in ihrem jüngsten Artikel („Spielwiese oder Durchbruch“) ein wichtiges Vorbild-Hindernis für next Leadership benannt: die Regierung in Deutschland, die statt Reformen für ein zukunftsfähiges Deutschland auf den Weg zu bringen, um Macht und Posten streitet.
Herausforderung Nr. 2: Fehlender Leidensdruck oder fehlende Perspektive
Veränderungen benötigen Leidensdruck oder positive Zukunftsaussichten. Entweder überwiegt der aktuelle Schmerz den Energieaufwand der Veränderung oder der Ausblick auf eine bessere Zukunft erzeugt mehr Pull-Energie als Veränderungsaufwand. Den Unternehmen in Deutschland geht es überwiegend gut, noch ist man mit den alten Mustern erfolgreich. Warum sollte man etwas ändern? Zudem sind die Aussichten teilweise so ungewiss, dass als Alternative auch kein Purpose in Sicht ist, der genug Veränderungsenergie erzeugt.
Jim Collins hat in seinem Bestseller „Der Weg zu den Besten“ herausgestellt, dass das Gute der Feind des Besten ist und in seiner empirischen Untersuchung nur wenige Unternehmen gefunden, die ein Spitzenergebnis mindestens 15 Jahre halten konnten, sprich nachhaltig erfolgreich waren. Bei den Erfolgsfaktoren spielte übrigens der technologische Wandel bei der Transformation zu einem Spitzenunternehmen kaum eine Rolle. Vielmehr waren die Führungsqualitäten entscheidend. Collins entdeckte bereits 2001 bei den untersuchten Spitzenunternehmen Leadership Ansätze, die in der heutigen New oder Next Leadership Debatte populär sind, wie etwa „Führungsanspruch beginnt nicht mit einer Vision. Er beginnt damit, dass man gemeinsam mit den richtigen Leuten die aktuelle Situation analysiert und eine Vision entwickelt.“ (Jim Collins „Der Weg zu den Besten" 2011, S. 109)
Geht es einem zu gut, ist der Schmerz, das Erreichte zu verlieren, größer als der emotionale Gewinn, Neues dazuzugewinnen. Das bedeutet in der Praxis: Die Kombination von heutigem Erfolg gepaart mit einer fehlenden Perspektive für die Zukunft, die mehr bieten muss, als noch höhere Renditen zu erzielen, ist brandgefährlich für jede Veränderungsbewegung und damit auch für Next Leadership. Das Beispiel Nokia zeigt, wie das enden kann.
Herausforderung Nr. 3: Die geführten Mitarbeiter
Sollten die Mitarbeiter gestern noch Dienst nach Vorschrift machen oder bei jeder Entscheidung den Vorgesetzten zu Rate ziehen, sollen sie heute plötzlich alleine oder im Team entscheiden, Verantwortung für sich und Ergebnisse übernehmen und kreative Innovationen produzieren. Sicherlich übertrieben, aber die Belegschaft eines Unternehmens ist ein „heterogener Haufen“ und nicht jeder ist sofort in der Lage hoch motiviert, Sinn inspiriert und selbstverantwortlich seinen Verantwortungsbereich zu managen. Die komplexe dynamische moderne Welt erfordert eine ebenso mentale und dynamische Komplexität. Damit hat ein nicht unerheblicher Teil der Menschen, die anders sozialisiert wurden, ihre Probleme. Wir kennen alle die Formel „love it, change it or leave it“ Das „change it“ wird von vielen Menschen ausgeklammert und stattdessen durch ein „suffer it“ ersetzt. Aber auch für die Generation Z, die die Hoffnung auf schnellere Anpassung an aktuellen Wandel nährt, wird z.B. von Prof. Scholz ein eher differenziertes Bild gezeichnet, was Next Leadership nicht unbedingt einfacher macht. Es besteht zwar ein hoher Wunsch nach Freiheit und Autonomie, aber zugleich ist eine Orientierungslosigkeit erkennbar, weshalb sich viele junge Leute nach mehr Sicherheit und Vorgaben sehnen als die Generationen vor ihr. Fazit ist, dass sich nicht alle Mitarbeiter über einen Kamm scheren lassen und nicht alle mit Arbeit ihre Selbstverwirklichung betreiben wollen.
Unternehmen begegnen ihren Mitarbeitern und Führungskräften häufig mit einem sehr skillorientierten Personalentwicklungsansatz, der neue Methoden und Tools vermittelt, aber dadurch noch lange nicht den Mindset verändert. Klassische Kompetenztrainings zielen primär auf die horizontale Entwicklung ab, während die eigene Transformation nur mit vertikalen Entwicklungsmaßnahmen angestoßen werden kann. Das ist aufwendig, kostet Zeit, Geduld und Geld und da greift man meistens doch lieber auf frontalorientierten und möglichst digital gestalteten Lernimpuls zurück, als sich mit dem Menschen, seiner Wahrnehmung, seinen Bewertungsmustern und seiner Selbstreflexion auseinanderzusetzen. Wenn es am Ende des Tages nur doch wieder darum geht, dass die Menschen zu funktionieren haben, wie es das Unternehmen gerade braucht, dann landen Next Leadership Ansätze auch ganz schnell in der Kategorie „instrumentelle Manipulation“ und werden keine tiefere Akzeptanz finden.
Herausforderung Nr. 4: Angemessenes Vertrauen
Im Zuge von New Work und Next Leadership wird vor allem eines gefordert: Vertrauen. Mehr Vertrauen in die Mitarbeiter, Vertrauensarbeitszeit, Vertrauen in die Selbstregulationsfähigkeit von Teams und mehr. Aber kann Vertrauen gefordert oder sogar verordnet werden?
Vertrauen heißt loslassen, bedeutet Kontrolle und Macht abzugeben. Das fällt vielen Führungskräften schwer, insbesondere in Unternehmenskontexten, die historisch auf starke Kontrolle aufgebaut sind. Kann man plötzlich einfach vertrauen und dann läuft alles in die richtige Richtung?
Vertrauen wird im Wesentlichen aus den beiden Faktoren Integrität und Zutrauen gebildet und muss in der Regel erarbeitet werden. Wenn kompetente Menschen hauptsächlich ihren eigenen Vorteil im Blick haben, fehlt es an der Integrität, die Vertrauen rechtfertigt. Wenn integre Menschen nicht die Kompetenz für die gestellten Anforderungen mitbringen, ist Vertrauen ebenfalls schwierig.
Insofern muss das Thema Vertrauen auf einem tragenden Fundament von starken Unternehmenswerten aufgebaut sein, transparenten „Spielregeln“ sowie Ergebniserwartungen, die realistisch sind, also weder unter- noch überfordern dürfen. Ist ein Team in der Lage, dieses selbstorganisiert und ohne Eigeninteressen zu definieren?
Beim Thema Vertrauen kann man schnell auf beiden Seiten vom Pferd fallen. Einerseits braucht Vertrauen Mut für einen Vertrauensvorschuss, der dann erst später bewiesen werden kann. Andererseits braucht Vertrauen Befreiung von einem naiven Gutmenschendenken, dass jeder schon irgendwie das Beste für das Unternehmen und die Kollegen gibt.
Nassim Nicholas Taleb schreibt in seinem Buch „Antifragilität“ sinngemäß (S. 198), dass eine naive Form von Utopie mit Blindheit gegenüber der Geschichte versucht, Habgier und andere menschliche Schwächen vernunftgeleitet zu eliminieren, was zu einer Fragilisierung der Gesellschaft führt. Die Menschheit bleibt aber mit diesen schlechten und bösen Seiten wie sie ist und das letzte, was wir brauchen, sind noch mehr Moralisierer, die die Menschen zur Vernunft rufen wollen. Praktikabler seiner Ansicht nach ist es, die Verhältnisse so zu gestalten, dass ihnen Habgier und andere menschliche Unvollkommenheiten nichts anhaben können.
Die Kompatibilität von Individual- und Unternehmenszielen wird leicht überschätzt. Nicht alle können immer mitgenommen werden oder gehen von selbst natürlich ausschließlich intrinsisch motiviert mit. Nicht alle Führungskräfte und Manager sind bereit, ihre Macht aufzugeben und sich einem größeren Zweck unterzuordnen bzw. irgendwelchen Schwarmintelligenzen zu folgen.
Herausforderung Nr. 5: Leadership ist nicht gleich Leadership
Führung ist in vielen Organisationen in der Vergangenheit recht eindimensional definiert und gestaltet worden. Das Risiko besteht auch bei den Next Leadership Ansätzen. Ein Modell wird als das Richtige auserkoren und möglichst simplifiziert in die Organisation getragen. Funktioniert es dann nicht, wird der nächste Ansatz entwickelt. Die Gefahr solcher Modelle ist es, dass sie für die Vielfalt an Führung nicht genug Raum lassen. Was heute teilweise an Leadership Qualitäten für morgen gefordert wird, basiert auf einem Bild von Führung, das nicht für alle Führungskräfte relevant ist. Nicht jeder Teamleiter in einer Organisation muss ein Enterprise Leader sein. Es gibt Anforderungen, mit denen man einem kleinen Team Orientierung geben muss und andere, die für einen ganzen Organisationsbereich Weitblick erfordern. Für manche Geschäftsbereiche sind agile Netzwerkstrukturen und wenig formalisierte Führung sinnvoll. Andere Organisationseinheiten verlangen eine hohe Standardisierung und Prozesseffizienz, in denen nicht jeder seine kreative Energie ausleben kann. So liegt die Herausforderung in jedem Unternehmen und bisweilen sogar in jeder Einheit anders und Führung muss auf ganz unterschiedliche Anforderungen reagieren.
Einheitlich gestalten kann man gewisse Werte und Richtlinien, die das verbindende Element in jeder Kultur sind. Daher darf Führung nicht nur instrumentell verstanden werden, sondern bedarf Prinzipien und eines Menschenbildes, für das das Unternehmen steht. Das gilt es dann aber zu leben und nicht nur schön klingende Sätze als Worthülsen stehen zu lassen.
Ein gelungenes Beispiel für einen modernen Führungsrahmen ist aus meiner Sicht das Leipziger Führungsmodell der HHL (siehe www.hhl.de), das Orientierung und zugleich Anregung bietet, es weiter mit Inhalten zu füllen und daher weniger normativ ausgerichtet ist. Hier ist Luft zum Atmen und Raum zum Gestalten enthalten. So könnten Unternehmen ganz groß in Next Leadership denken und doch sehr differenziert und überlegt in die Umsetzung gehen.
Fazit
Die fünf beschriebenen Herausforderungen beinhalten keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind auch kein Plädoyer für ein Zurück zu den alten Führungsweisheiten. Im Gegenteil, wir verstehen uns als Anwalt für neue Wege und Formen der Führung. Aber wie bei jeder Veränderung ist es wichtig, die Herausforderungen zu kennen und sie dann mutig anzupacken, anstatt blauäugig irgendwelchen Trends oder Heilversprechen hinterherzulaufen und wenn dann der Erfolg ausbleibt zu den alten Mustern zurückkehren. Es ist sowohl theoretische als auch praktische Weisheit gefordert, denn bei manchen Speakern werden teilweise psychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert, die man nicht mal eben außer Kraft setzen kann, nur weil es nicht modern ist; bisweilen wird die tägliche Praxis der betroffenen Unternehmer und Führungskräfte nicht ernst genug genommen. Schon Oswald Neuberger hat in seinem Klassiker „Führen und führen lassen“ vom Führungsdilemma gesprochen. Das ist aktueller denn je und viele Führungskräfte in Unternehmen sind verunsichert: auf der einen Seite soll Freiheit und Verantwortung ermöglicht werden, auf der anderen Seite wird nach Sicherheit, Vorgaben und Status verlangt.
Genau das macht Next Leadership spannend und komplex.
Aber das war Führung ja schon immer.