Komplexität erfordert Widerspruchskompetenz

Zentrale Fragen im Führungskräftetraining

Die Beschäftigung mit dem Problem der Widersprüche hat mich schon lange in ihren Bann gezogen. Im Führungskräftetraining ist das Thema für mich zum zentralen Element aufgestiegen, ist es mir doch damit möglich, sehr viele unternehmerische Problemstellungen und Herausforderungen in der Führungsarbeit systematisch und tiefgehend zu diskutieren und Praxisprobleme zu lösen.

                                  

Sind Widersprüche es wert, behandelt zu werden?

Es kommt schon vor, dass Teilnehmer/innen in meinen Führungstrainings anfangs etwas verwirrt wirken, sobald wir zum Thema Widerspruchsarbeit kommen, weil sich ihnen der Sinn nicht sofort eröffnet. Ich bin der Meinung, dass wir den Menschen in Führungspositionen auch etwas zumuten dürfen. Es geht nicht nur um die schnellen, mundgerechten Häppchen, die Instant-Nutzen versprechen. Es geht auch um substanzielle Erkenntnisse, die im Führungsleben langfristig helfen und uns auf eine neue Ebene der Kompetenz bringen. Diese Erkenntnisse sind selten ein Geschenk, man muss sie sich vielmehr erarbeiten. Nach einigen Stunden, Dialogen und Erklärungen aber öffnet sich das Feld der Widersprüche mit seinem enormen Potenzial. Ich möchte fast sagen, Widersprüche sind ein Thema für „Weltversteher“, die Wert darauflegen, Entwicklungen und Herausforderungen zu durchschauen. In Top-Führungspositionen, wenn es um strategische Fragen geht, halte ich die Widerspruchsarbeit heute für unverzichtbar. In mittleren Führungsebenen ist sie sehr ratsam und hilfreich. Daher meinen viele Teilnehmer/innen, sobald sie die Sache durchblickt haben, dass ihre Perspektive der Führungsarbeit nun extrem erweitert wäre!

Warum aber ist das so?

Es gibt in Unternehmen und Organisationen keine Problemstellung strategischer Natur, hinter der nicht mindestens ein grundlegender Widerspruch steckt. Meist finden wir auch hinter allen chronischen Problemen und Konflikten einen relevanten Widerspruch. Wenn wichtige Großprojekte in Unternehmen scheitern, die Produktentwicklung nicht funktioniert oder die strategische Weiterentwicklung zum Stillstand gekommen ist, lässt sich immer ein Widerspruch finden, der als Hauptursache gelten kann. Die Lösungsmechanismen für solche Widersprüche sind zwar komplex und anstrengend, der Weg aber führt zum Ziel. Im Gesamtkontext stehen Aufwand mit dem Problem und Aufwand für die Lösung in einer guten Balance.  

Was ist nun ein Widerspruch?

Ich halte es mit Herbert Pietschmann und nenne die relevanten Widersprüche „Aporien“. Hier eine einfache Definition in drei Punkten: (1) Es gibt zwei einander widersprechende Aussagen.  (2) Beide Aussagen sind wahr oder zumindest aus der jeweiligen Perspektive berechtigt (es gibt also kein richtig und kein falsch) und (3) die beiden widersprechenden Aussagen bedingen einander (die eine Aussage macht ohne die andere keinen Sinn).

Eine Einführung in den Umgang mit Aporien

In diesem kurzen Video finden Sie eine knappe Einführung in die Welt der Aporien.

                                  

Beispiel: Ordnung und Freiheit (Hierarchie und Agilität)

Die Aporie von Ordnung und Freiheit ist gerade sehr in Mode. Es ist einer der strategischen Widersprüche, der hinter der gesamten Organisationsdiskussion „Hierarchie oder Agilität“ steckt. Hierarchie steht dabei sinngemäß für Ordnung und Agilität für Freiheit. Es lassen sich zwei widersprechende Aussagen formulieren: (1) Ordnung erhält die Freiheit (2) Ordnung zerstört die Freiheit. Oder moderner ausgedrückt: (1) Mitarbeiter/innen brauchen eine klare Hierarchie, damit sie in ihrem Freiraum gute Arbeit leisten können. (2) Hierarchie und agile Arbeitsformen sind unverträglich, weil Hierarchie die Motivation der Menschen ruiniert. Jetzt kommt noch ein wichtiger Punkt für das Verständnis von Aporien ins Spiel. Natürlich ist das ein Konflikt, ein aporetischer Konflikt. Aber alle Konfliktlösungsansätze beginnend bei der Flucht (wir ignorieren das Problem), wir vernichten den Gegner, wir unterwerfen die eine Seite oder wir delegieren das Problem nach „oben“, funktionieren einfach nicht. Bedenken Sie Punkt (3) der Definition einer Aporie: die eine Seite ist von der anderen abhängig. Das macht klar, wohin einseitige Lösungen führen würden. Bleibt der Kompromiss, der von beiden Seiten ein bisschen gibt und gleichzeitig nimmt. Auch dieser Weg führt zu keiner Lösung, weil der Streit kein Ende nimmt. Übrig bleibt die Königsdisziplin der Konfliktlösung, die Suche nach einem Konsens im „konsensualen Prozess“.  Jetzt wird Ihnen auch schnell klar sein, warum die Lösung einer Aporie anstrengend ist. Der Widerspruch als Konfliktfall im Unternehmen muss alle Stufen der Konfliktlösung durchlaufen und letztlich zum Konsens führen. Streit ist auf den unteren Ebenen (Vernichtungs-, Unterwerfungs- oder Delegationsversuche) inklusive. Es ist aber zweifellos lohnenswert!

                                  

                                   

 

Anwendungsbeispiel: Zentrale und Außendienst

Ein grundlegender Widerspruch in vielen Unternehmen, der sich mit unterschiedlichen Gesichtern zeigen kann, ist das Problem zwischen Außendienst und Zentrale. Hier ein Versuch, diese Aporie allgemein zu formulieren: Aussage 1 (These): Vertriebsmitarbeiter/innen sind Angestellte des Unternehmens und müssen sich an die Vorgaben und Regeln der Zentrale zwingend halten und bestmögliche Ergebnisse erzielen.  Aussage 2 der Gegenseite (Antithese): Vertriebsmenschen sind freie Unternehmer/innen, die bei Bedarf Unterstützung und Serviceleistungen einer Zentrale annehmen können. Diese Dienstleistungen sind aber auch anderswo beziehbar. Hinter diesem Widerspruch steckt wieder die Aporie von Ordnung und Freiheit. Wenn in einem Unternehmen der Konflikt zwischen Zentrale und Außendienst gerade eskaliert, weil die einen die anderen der Arroganz, der überflüssigen Existenz, der Unbrauchbarkeit beschuldigen, sind sie in Phase 2 der Konfliktlösung (siehe obige Abbildung), nämlich mitten im Versuch, die Gegenseite zu unterwerfen.

Anwendungsbeispiel: Demotivation und hohe Krankenstände

Wenn Organisationen ein veritables Motivationsproblem haben oder die Fehlzeiten unangenehme Ausmaße annehmen, dann sind meist mehrere aporetische Konflikte „unter dem Teppich“ zu finden. Hierzu braucht es eine kleine Analyse, aber ein mögliches Ergebnis der Hauptwidersprüche könnte so aussehen (ein Beispiel aus dem Führungskräftetraining):

Diese Widersprüche können in Workshops oder Interviews erarbeitet werden. Zumindest einer davon ist als Hauptursache für die Demotivation zu identifizieren und verlangt nach einem konsensualen Lösungsprozess.

Lösung der Aporie im iterativen Dialog

Natürlich gibt es noch andere Wege, aporetische Konflikte zu lösen. Eine Option kommt aus der systemischen Welt und wird nach Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd „Tetralemmaaufstellung“ genannt. Ein ähnlicher Ansatz stammt von Günther Ossimitz und Christian Lapp und nennt sich Metanoia-Prinzip. Es ist eine Anleitung zu einem fundamental anderen Denken, quasi eine Systemaufstellung im Kopf.

Besonders aktuell im Zusammenhang mit dem Umgang hoher Komplexität ist aber der „iterative Dialog“, der sich ebenso zur Lösung der Aporie eignet. Hier ein Video dazu, das den aporetischen Konflikt zwischen „Linie und Projekt“, der in vielen Unternehmen bekannt ist, in wenigen Minuten erklärt. Als Lösung wird der „iterative Dialog“ empfohlen:

                                

Die Herausforderung liegt im Verständnis

Aus meiner Erfahrung im Führungskräftetraining liegt die größte Herausforderung im Verständnis der Aporie und deren Übersetzung in den eigenen Führungsalltag. Wenn das aber gelingt, ist eine Kompetenz gewonnen, die viel Zukunftsfähigkeit in sich trägt. Sie kennen vielleicht das Akronym  VUCA-Welt. VUCA steht für Unternehmensumwelt, die sich durch folgende Aspekte beschreiben lässt: V = Volatilität (Welt voller Veränderung), U = Unsicherheit, C = Komplexität und A = Ambivalenz, was nichts anderes meint, als Widersprüchlichkeit. Wir können davon ausgehen, dass jede relevante Organisation sich einer „VUCA-Umwelt“ ausgesetzt sieht. Der Umgang mit Ambivalenz  = Widersprüchlichkeit wird also zur Standardherausforderung moderner, zeitgemäßer Führung.

Widerspruchskompetenz für Führungskräfte

Aus meiner Sicht gilt die These:

Widerspruchskompetenz = Führungskompetenz Nr. 1 in einer komplexen Welt!

Für einen spielerischen Umgang mit dem Thema Widersprüche kann ich Ihnen das Calendarium für Weltversteher: „Verdammt, dreimal abgeschnitten und immer noch zu kurz! Widersprüche – 12 Gründe, warum wir sie lieben sollten“ empfehlen. Anhand 12 inspirierender Karten können Sie in die Welt der Widersprüche eintauchen! Bestellung einfach per E-Mail

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Volatile Zeiten machen Führungsarbeit herausfordernd. Der Ruf nach Einfachheit hilft wenig. Der beste Weg in die Zukunft: die hohe Komplexität meistern und als Ressource erkennen. Werden Sie fit für Widersprüche in instabilen Zeiten und entdecken Sie neue Zugänge zu Entscheidung und Veränderung.

Herzlich,

Ihr Heinz Peter Wallner

Vertiefender Content:

Herbert Pietschmann hat mit „Eris & Eirene“ eine Anleitung zum Umgang mit Widersprüche und Konflikten vorgelegt, die als allgemeine Einführung zu verstehen ist. Pietschmann erklärt darin den Begriff der Aporie und die aporetischen Konflikte.

In unserem Buch: „Das innere Spiel – Wie Entscheidung und Veränderung spielerisch gelingen“ haben Kurt Völkl und ich gemeinsam die Widerspruchsthematik aufgegriffen und für Entscheidungs- und Veränderungsprozesse in Unternehmen nutzbar gemacht.

Über 20 vertiefende Artikel zum Thema Widersprüche auf meinem Blog hpwallner.com  

 

Der Autor des Fachartikels ist Mitglied im Toptrainer Verzeichnis. Besuchen Sie seinen Profil.