Veränderung oder Erstarrung von Organisationen

Über die Unfähigkeit, mit hoher Komplexität umzugehen

Komplexität und Transformation

Angesichts der andauernden Ignoranz, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft gegenüber ihren verheerenden sozialen und ökologischen Nebenwirkungen in der Welt aufbringt, wird der Veränderungsdruck immer stärker. Viele Unternehmen sind dabei schon lange von diesem Druck betroffen und werden immer mehr gezwungen, die große Transformation auszuagieren. Die Commitment-Bereitschaft der Menschen, sich dem Wandel bedingungslos auszusetzen, ist gering. So poppt die dadurch entstehende innere Spannung als Vorwurf der Verwöhnung immer wieder auf. Dabei ist dieser Vorwurf nicht berechtigt. Im Gegenteil. In ihm steckt geballtes Unvermögen im Umgang mit Komplexität. Es ist zu kurz gedacht, in einen populistischen Chor einzustimmen und „Schuld“ bei den verwöhnten Menschen zu suchen. 

© Illustration: Dodo Kresse, www.summerhill.at

Verwöhnung ist wie Misstrauen

Verwöhnung hat eine ähnliche Verbreitungstendenz wie Misstrauen. Wer in einer Sache als verwöhnt gilt, der ist, so die Annahme, wohl auch in allen anderen Aspekten verwöhnt. Und wenn der eine Mensch verwöhnt ist, dann ist es sicher auch der andere. Letztlich übertragen wir das Bild auf alle. Es wird zur einfachen Lösung in Organisationen, immer dann, wenn die Führung mit ihrem Latein am Ende angekommen ist, den MitarbeiterInnen den Vorwurf zu machen, sie seien verwöhnt. Jedem Menschen fallen zig Beispiele ein, an denen die Verwöhnung festzumachen ist. Und jedes gefundene Körnchen wird als Bestätigung des Vorwurfes gewertet und fühlt sich daher richtig gut an. Das aber ist der Schwall eines Chors, der Dummheit in die Welt posaunt. Diese Art der Chöre vermehrt sich derzeit besonders schnell. Es ist so befreiend, das scheinbar nicht lösbare Problem durch Übertragung auf Sündenböcke loszuwerden. Die individuellen Menschen sind es nicht, die den Vorwurf der Verwöhnung verdienen. Ich meine sogar: Der Begriff der Verwöhnung ist als Vorwurf für Individuen in Organisationen nicht geeignet.

Was meinen wir mit Verwöhnung eigentlich?

Worüber reden wir, wenn wir von „Verwöhnung“ in Organisationen sprechen? Geht es wirklich um erworbene Rechte, die verteidigt werden, geht es um die kleinen Widerstände, wenn es darum geht, Verschlechterungen zu akzeptieren, geht es darum, dass Menschen nicht alles ertragen oder dass sie ihre Komfortzone nicht freiwillig verlassen wollen? Wohl kaum. Wenn wir über Verwöhnung reden, dann müssen wir unseren Blick heben. Es macht wenig Sinn, das Problem in seinen Auswirkungen im Detail zu betrachten und falsche Schlüsse zu ziehen. 

Der Philosoph Peter Sloterdijk (http://bit.ly/Peter_Sloterdijk_Ausgewählte_Übertreibungen) bringt es auf den Punkt. Der Mensch muss als verwöhnungsgefährdetes Wesen begriffen werden. Er verwendet das Bild der Raumstation der Verwöhnung. Es ist Teil des Spiels, dass wir jede Vertiefung unserer Verwöhnung als Gewohnheit wahrnehmen und emotional neutralisieren. So können wir immer weiter abheben und den Kontakt zur Erde komplett verlieren. Wir könnten einmal Verwöhnung als das sehen, was sie ist. Ein normaler Prozess, der über Gewohnheiten abläuft und wie alles im Leben, zwei Seiten hat. Eine feine, weil wir damit unser Leben angenehmer gestalten können, eine unfeine, weil wir Gefahr laufen, das Beste im Leben zu verpassen. Wer seine Wärmestube nicht verlässt, hat es gemütlich und lebt risikofrei, aber es fühlt sich langweilig an und entkoppelt uns vom „Zug nach oben“. Wir sind dann nur mehr „etwas“ und haben aufgehört, zu werden, was wir wirklich sind. Andererseits ist der Tendenz sich zu verwöhnen, wohl eine der Triebfedern für unseren wirtschaftlichen Fortschritt.

Es gibt die gesellschaftliche Verwöhnungsmaschinerie

Aus meiner Sicht arbeitet die Verwöhnungsmaschinerie mit dem Nebel der Illusionen. Als Gesellschaft haben wir verloren, was Peter Sloterdijk die Savannenerrungenschaft genannt hat. Wir haben es ursprünglich gelernt, unser Leben so gestalten, dass wir gemütlich am Baum sitzen und alle Feinde aus der Ferne kommen sehen. Das ist intelligent und erhöht die Überlebenschancen. Wenn wir uns aber den Illusionen hingeben, dann zieht der Nebel auf, der uns den Weitblick nimmt. Dann kann sich das Ungemach nähern, und wir feiern weiter eine Baumparty. Nur deshalb, weil wir die Gefahr nicht sehen können, dürfen wir nicht glauben, sie sei nicht da. Genauso aber leben wir. Es ist die gefährlichste aller Illusionen, zu glauben, dass es immer so weiter gehen könnte. Das führt uns zur Annahme, dass wir „in unserer Raumstation Europa“ die fatalen Nebenwirkungen unseres Handelns ausgrenzen und ignorieren könnten. Der Dreck, der unsere Raumstation verlässt, der muss aber von irgendjemandem aufgenommen werden. Wir haben als Gesellschaft den Ausstieg aus der globalen, universellen Verbundenheit betrieben und damit jede Verantwortlichkeit für unser Handeln abgeschoben. Wir haben den Kontakt zu „Houston“ verloren und beginnen erst langsam zu entdecken, dass wir ein Problem haben.

Verwöhnung ist ein Seinszustand in unserer Raumstation

Verwöhnung ist ein gesellschaftliches und kein primär individuelles Problem. Sicher werden die Verwöhnungstendenzen dann individuell ausgelebt. Manche Menschen verstärken diese Tendenz und ergeben sich dem Opferdasein, andere kämpfen dagegen erfolgreich an. Der individuelle Irrtum ist dabei folgender: Wir nehmen die Aussage „Für Dich ist gesorgt“ etwas zu ernst. Was im Zustand einer universellen Verbundenheit und spirituellen Gelassenheit ein guter Zugang zur Welt ist, wirkt sich auf unserer Raumstation eher negativ aus. Die Interpretation ist dann: „Für mich muss gesorgt werden“ (mit dem Appendix: „und alle anderen müssen Opfer bringen, ausgeschlossen bin nur ich selbst“). Das ist ein überzogener Anspruch, der aber in der Raumstation auf Verständnis stößt. Die Nebenwirkungen sind auch hier kaum sichtbar, sie „verstecken“ sich nämlich zu ebener Erde. 

Jetzt erst kommen die Organisationen ins Spiel

Unternehmen sind jene Orte, die noch den größten Bezug zur ebenen Erde haben. Sie konnten sich aus der globalen Verbundenheit nicht vollständig lösen. Lange noch bevor die Gesellschaft die Rechnung für die Nebenwirkungen präsentiert bekam, haben Unternehmen die Zeche bezahlen müssen. Sie sind lange schon in eine neue Maschinerie eingetaucht. Statt „Verwöhnung“ aber heißt diese jetzt „Transformation“. Was Fredmund Malik die Transformation21 (http://bit.ly/Fredmund_Malik_Navigieren_in_Zeiten_des_Umbruchs) nennt, erfasst immer mehr Unternehmen und Organisationen an ihren Wurzeln. Sie müssen den Wandel mit allen Fasern ausagieren und sich der Komplexität der Welt aussetzen. Sie müssen aufhören, Komplexität zu reduzieren und sich der Vereinfachung hinzugeben. Wer es nicht tut, der überlebt nicht. Das Unternehmen ist dem Wandel verpflichtet und die Führungskräfte sind aufgerufen, das Commitment der MitarbeiterInnen abzuholen. Dieses Geschenk bekommen aber nur die Fähigen und selbst die müssen hart dafür arbeiten. Den Unfähigen gegenüber zeigen sich die Menschen verschlossen und leben Beharrungstendenzen aus, die aus Unternehmen Geisterbahnen machen. Führungskräfte erleiden Liebesentzug durch Abwesenheit in Form von Krankenständen, die in ihrem Ausmaß eher in afrikanischen Bergwerken zu vermuten wären. Da ist dann der Vorwurf der Verwöhnung nicht weit hergeholt.

© Illustration: Dodo Kresse, www.summerhill.at

Schuld sind also die Führungskräfte?

Am besten, wir hören auf, einen Schuldigen zu suchen. Wir leben schließlich alle in jener Raumstation, die langsam wieder Bodenkontakt erringen muss. Alle sind gefordert, bei der Landung mitzuhelfen. Das geht nicht ohne Verluste und nicht ohne gründlich durchgeschüttelt zu werden. Was wir aber festhalten können: „Verwöhnte MitarbeiterInnen“ werden nur von verwöhnten Führungskräften überhaupt als solche erkannt. Verletzend, aber leider wahr: Der Vorwurf der Verwöhnung schallt vom Chor der Dummen in die Welt. Verwöhnung als Vorwurf zu verwenden ist ein Hilferuf jener Führungskräfte, die mit Komplexität nicht umgehen lernten. Sie können die Transformation selbst nicht ertragen und haben zu spät begonnen, die Menschen wieder beweglich und flexibel zu machen. Mehr aber können wir dazu nicht sagen, weil Führungskräfte selbst nur ausagieren, was Organisationen von ihnen verlangen. Und die wiederum spielen ihr größeres Spiel. Sie produzieren ein riesiges Produktportfolio, um Menschen zu verwöhnen und halten so die Maschinerie im Laufen.

Gibt es die verwöhnte Organisation?

Wenn wir schon den Menschen ihre Verwöhntheit nicht zum Vorwurf machen dürfen, könnten dann nicht die Organisationen herhalten? Gehen wir dem nach. Was ist dabei mit Verwöhnung überhaupt gemeint? Für mich gibt es nur einen interessanten Punkt in dieser Diskussion der Verwöhnung und das ist folgender: Die Organisation ist lange vom Ungemach des Wandels verschont geblieben und konnte somit Komplexität reduzieren und Beharrungsenergien aufbauen. Eine Organisation, die so verfahren ist, kann aus meiner Sicht als verwöhnt bezeichnet werden. Das aber ist auch keinen Vorwurf wert. Wer hält sich schon in der Nähe eines Defibrillators auf, wenn er keine Herzbeschwerden hat? Eben. So ein Verhalten wurde nur bei den Mäusen in Spencer Johnsons Mäusestrategie-Story (http://bit.ly/Spencer_Johnsons_Die_Mäuse-Strategie_für_Manager) beobachtet.

Besonders anfällig für diese Diskussion sind jene Organisationen, die sich über Jahrzehnte aus der „Verbundenheit der Welt“ weitgehend raushalten konnten; beispielsweise Organisationen, die niemals über ihren Zweck nachdenken mussten und für deren Zukunft gesorgt war. Hier treffen sich die Verwöhnung und die Gewöhnung. Es sind aus Gewohnheit verwöhnte Organisationen. Ich würde davon Abstand nehmen, unsere Bürokratien hier als Beispiele zu nennen. Verwöhnung greift viel weiter und betrifft alle Organisationen, die sich dem Wandel entziehen konnten und die „erfolgsverwöhnt“ sind. Ein Definitionsversuch: „Verwöhnte Organisationen sind jene, in denen kein Funken Wille zur Veränderung mehr steckt.“ Oft hat der große Erfolg in diese Sackgasse geführt.

Verwöhnung liegt fern der Lebendigkeit

Verwöhnung zeigt sich im Unvermögen, im Wandel bestehen zu können. Es ist eine Art Starrheit, die sich aus dem langen Verweilen in einem Erfolgszustand ergibt. Damit kommen wir zum Punkt der Komplexität. Verwöhnung meint, Komplexität nicht meistern zu können. Und nur weil die Komplexität der Welt in der großen Transformation21 so richtig schnell ansteigt, merken wir unser Problem. Bei der ganzen Sache gibt es eine einzige gute Nachricht: Es ist nicht unmöglich, sich mit der steigenden Komplexität anzufreunden. Und es führt uns zur „Lebendigkeit“ zurück. Fast kommt dieses Ansinnen einem Wiederbelebungsversuch gleich. Gesellschaftlich und individuell können wir auf diesem Weg unsere „Raumstation landen“ und zu ebener Erde zurückkehren. Das Leben wird es uns danken. Der Erfolg, wenn Sie aus der Perspektive eines Unternehmens schauen, stellt sich dann am ehesten ein. Lebendigkeit ist das Zauberwort der Zukunftsfähigkeit.

Ausbruch aus der Wärmestube des Leidens

Wer das Leben außerhalb der Komfortzone kennt, der empfindet die Wärmestube der Verwöhnung oft nur mehr wenig attraktiv. Verwöhnung ist immer einseitig und daher kein adäquates Lebenskonzept. Als Gesellschaft mag uns das Verlassen der Komfortzone noch Angst einjagen, aber für Unternehmen eröffnet es neue Chancen.  Was können Menschen, was können Unternehmen tun, um der Verwöhnungstendenz zu entkommen?

Was ich als Mensch tun kann

  • Ganzheitlich denken und sich der
    Verbundenheit allen Seins hingeben
  • Beharrung als Verwöhnungszustand
    erkennen und mit "Willenskraft" beenden
  • Eine neue Haltung entwickeln und
    Veränderung als Prinzip anerkennen
  • Sich als Mensch wieder im "Zug nach
    oben" ergeben und sich weiterentwickeln
  • Iterativ und in kleinen Schritten vorgehen,
    neugierig erkunden und staunen, was
    gelingt
  • Eitelkeiten überwinden und Ballast über
    Bord werfen

Was Unternehmen tun können

  • Ganzheitlich agieren und sich gegenüber
    der Welt verantwortlich fühlen
  • Starrheit aufgeben und alte Erfolgsrezepte
    über Bord werfen
  • Dynamik und Agilität als Option aufnehmen
    und damit experimentieren
  • Eine Kultur der Veränderung leben und
    gemeinsame Übung zum Prinzip erklären
  • "Segeln auf Sicht" lernen und diese "iterativ
    testende Agilität (nach Peter Kruse) den
    alten Planungen vorziehen
  • Die Organisation wiederbeleben und mit
    Freude wirtschaften

Gutes Gelingen!   

Herzlich,
Ihr Heinz Peter Wallner
www.hpwallner.com

Anmerkungen:

Um in die neue Welt der agilen Führung schnell einzutauchen, empfiehlt sich das Buch: Coopers Welt – Leadership für eine neue Zeit, www.cooperswelt.de – diese leicht lesbare, sehr unterhaltsame Business-Story beschreibt, was sich in vielen Unternehmen heute abspielt. Begleiten Sie Cooper im Arbeitsalltag einer Welt in Transformation! (Eco-Premium Print oder eBook)

Eine weitere Variante des Artikels ist in: managerSeminare 222, August 2016, Seite 16 - 17, im Speakers Corner erschienen. Für LeserInnen der ManagerSeminare geht es hier zum Artikel:  http://bit.ly/2bfG7AB

Der Autor des Buches ist Mitglied im Top-Trainerverzeichnis. Besuchen Sie sein Profil.