Beurteilung und Feedback

Die Kommunikation eines Fremdbildes oder eine Beurteilung ist die Mitteilung, wie jemand in einem bestimmten Bereich auf mich wirkt. Es handelt sich um eine Beschreibung meines Eindrucks vom Anderen. Steuerungsrelevantes Feedback ist etwas völlig Anderes - nämlich nicht die Mitteilung, wie jemand auf mich wirkt, sondern was er bei mir bewirkt. Es handelt sich um eine direkte Beschreibung von Effekten in meinem Milieu. Beide Modi erfüllen jeweils eine völlig unterschiedliche Funktion.

Feedback und Bewertungen

„Darf ich Ihnen mal ein Feedback geben?“ Bei diesem Satz zucken die Adressaten häufig schon zusammen - denn was kommt, ist mitunter schwer zu vertragen.

Dazu drei Schlaglichter aus der Praxis: Auf einem Führungs-Workshop fiel in eher unschuldigem Kontext das Wort „Feedback“. Einer der Teilnehmer lief darauf hin rot an, seine Halsschlagader begann sichtbar für alle zu pochen und er sagte in einem Ton, der keinen Zweifel an der Intensität seiner Emotion zuließ: „Ich hasse Feedback. Wenn Sie uns bitte damit verschonen würden…“

Ein anderer Teilnehmer berichtete von einer „Feedback-Übung“ in einem Führungsseminar (gegenseitiges Schildern von Eindrücken übereinander), dass er so getroffen war, dass er unterwegs einen Unfall hatte. Ob er dem Trainer gesagt habe, dass er das Verfahren innerlich ablehne? Nein, das sei nicht möglich gewesen. Er wolle doch nicht als lernunwillig oder gar als „nicht feedbackfähig“ gelten.

In einem anderen Workshop berichtete die Leiterin eines Krankenhauses, sie sei von der Mitarbeitervertretung aufgefordert worden, ein Beurteilungssystem einzuführen. Ihre Frage, wozu man meine, ein solches System zu brauchen, konnte aber niemand schlüssig beantworten. Es gibt bis heute in der sehr erfolgreich arbeitenden Klinik kein Beurteilungssystem.

Das, was in Unternehmen häufig „Feedback“ genannt wird, ist in der Regel keines. Vielmehr werden Fremdbilder ausgetauscht. Es werden keine inhaltlichen Rückmeldungen über Effekte gegeben, sondern Einschätzungen über andere Personen, ihre Leistungen und ihr Potenzial - also mit Bewertung verbundene Fremdbilder/Urteile/Diagnosen.

Menschen bewerten beständig spontan - auch die Leistung anderer Personen. Für die eigene Orientierung und als Grundlage für eigene Entscheidungen sind Einschätzungen der Realität wichtig und bedeutsam. Für die Verbesserung von Prozessen bei Anderen ist deren Beurteilung aber streng genommen weder ein notwendiger noch ein sinnvoller Vorgang. Dazu braucht es Feedback - und das ist etwas grundsätzlich anderes.

Denn der Unterschied zwischen Feedback und Beurteilung ist nicht kosmetischer Natur - es geht nicht darum, wie vorsichtig, höflich oder freundlich man es vorträgt. Feedback und Fremdbild/Beurteilung sind unterschiedliche Kategorien von Information.

Blinde Piloten

Die Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs hat einen sehr interessanten Kurzfilm gedreht - dabei handelt es sich um die Verfilmung eines guten Witzes:

Zwei Piloten besteigen ein Flugzeug in Begleitung ihres Blindenhundes. Das Flugzeug startet und erreicht das Ende der Startbahn kurz vor der Küste. Gleich wird es ins Meer stürzen, merken die Passagiere- und fangen laut an zu schreien.

Der blinde Pilot zieht darauf hin seinen Steuerknüppel an, das Flugzeug hebt ab. Zu seinem ebenfalls blinden Copiloten sagt er: „Irgendwann werden die Leute zu spät schreien, und dann werden wir alle sterben...“

Bei diesem Vorgang handelt es sich um echtes Feedback: Das Schreien ist eine Auskunft aus dem Milieu der Passagiere - vielleicht kein sonderlich qualifiziertes, aber ein wirksames Feedback. Es handelt sich dabei keinesfalls um ein Fremdbild über die Piloten. Zu messen, wie blind ein Pilot ist, ist sinnvoll, wenn man entscheiden muss, ob er ins Cockpit darf oder nicht. Diese Entscheidung sollte ihm auch mitgeteilt werden. Dem Piloten zu sagen, dass er blind ist - oder wie blind er ist - ist ein davon zu unterscheidender Vorgang. Vollkommen unnötig ist dieser Vorgang, wenn der Pilot bereits im Cockpit sitzt und fliegt.

Wenn wir Kooperationspartner über Effekte, die ihr Handeln in unserem eigenen Milieu auslöst, informieren, werden sie darin unterstützt, sich selbst zu steuern. Dazu ist es in manchen Fällen auch nötig, ihr Handeln zu beschreiben und mit den Effekten in Verbindung zu bringen. Den Kooperationspartner in diesem Kontext zu bewerten, ist jedoch etwas Anderes und nicht sinnvoll. Die Bewertung des Andern muss - wo es um Lösungen geht - zurückgedrängt werden. Bedarf und Ergebnisse gegeneinander abzugleichen, inhaltlich zu optimieren und Lösungen zu entwickeln, erfordert kontinuierliche unterstellungsfreie Information, möglichst in der Annahme der guten Absicht des jeweils Andern.

Die Bewertung ist bestenfalls geeignet, der Information eine affektive, emotionale Farbe zu geben: Sie bringt mehr oder weniger stark zum Ausdruck, für wie problematisch ich die Auswirkung auf mein Milieu halte. Inhaltlich trägt die Bewertung zur Prozesssteuerung und zur Qualität der Ergebnisse nichts bei.

Das, was in Unternehmen üblicherweise als „Vorgesetztenfeedback“ praktiziert wird, läuft im Prinzip darauf hinaus, die Sehfähigkeit der Piloten (siehe oben) zu messen statt ihnen zu steuerungsrelevantem Feedback zu verhelfen. Dann wird den Piloten mitgeteilt, für wie blind sie gehalten werden. Diese Rückmeldung ist natürlich anonymisiert. Weil die Piloten das verständlicherweise schwierig finden, müssen sie natürlich gecoacht werden. Meist werden danach moderierte Sitzungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter nötig. Dabei wird zur Krönung der Pilot aufgefordert offenzulegen, wie blind er sich selbst findet. Nach dem Selbstbild-Fremdbild-Abgleich werden Maßnahmen zur Reduktion der Blindheit des Piloten abgeleitet. Damit ist die pädagogisch-therapeutische Arbeit am Piloten abgeschlossen.

Die Unterscheidung von Beurteilung/Fremdbild und Feedback

Beurteilungen (Fremdbilder) sind sinnvoll und notwendig, wenn eine Leistung als solche eingeschätzt werden muss, um Entscheidungen zu treffen. Einzelleistungen zu beurteilen dient entsprechend entweder der Ableitung von Maßnahmen oder dem Sammeln von Daten für ein späteres Assessment der Person.

Eine Beurteilung der Person ist sinnvoll und notwendig, um sie zu platzieren oder für eine Position auszuwählen. Manchmal muss dabei eine unzureichende Informationsgrundlage in Kauf genommen werden. Auch im Rahmen von Entwicklungsdiagnostik (Prüfungssituationen, die dem Abgleich von Lernerfolgen mit einem objektiven Kriterium zum Zweck der Statusdiagnose dienen) können Beurteilungen Sinn machen. Entwicklungsdiagnostik setzt inhaltliche Kompetenz des Beurteilers im fraglichen Bereich voraus.

Beurteilungen und Bewertungen stiften immer Hierarchie in der Beziehung, ganz gleich ob sie negativ oder positiv sind (Volksmund: „Alles Loben kommt von oben“). Hierarchie und Urteile werden eher akzeptiert, wenn Urteilsfähigkeit angenommen werden kann.

Strenggenommen ist es fraglich, ob ein Fremdbild oder eine Beurteilung überhaupt mitgeteilt werden muss. Im Moment der Mitteilung wird der Raum der Diagnose zum Zwecke der Entscheidungsfindung des Beurteilers verlassen. Die Mitteilung einer Beurteilung ist keine Diagnose, sondern eine Intervention. Die Auswirkung auf den Beurteilten ist in vielen Fällen nicht kalkulierbar. Es ist keineswegs sichergestellt, dass sie einer Verbesserung der Situation dienlich ist.

Eine besonders heikle Form des Urteils ist das Assessment des Potenzials einer Person (nicht nur einer Einzelleistung), denn Potenzialaussagen gehen sehr weit in den persönlichen Bereich hinein. Entsprechend müssten die Anforderungen an Validität sehr hoch sein. In jedem Fall ist die Kommunikation einer Potenzialaussage an eine Person als Intervention mit unkalkulierbaren Folgen zu betrachten.

Spätestens seit den Forschungen von Rosenthal und Jacobson („Pygmalion in the Classroom, 1968) zum sogenannten „Rosenthal-Effekt“ oder „Pygmalion-Effekt“ kann nicht mehr ignoriert werden, dass das Absprechen einer Fähigkeit einen direkten negativen Effekt auf die Leistung des Probanden hat. Dieser Befund wird ständig in immer neuen Variationen bestätigt. Hohe Validität der Diagnose löst dieses Problem nicht, sondern kann die Folgen sogar unerwünscht verstärken. Jemanden für eine Stelle abzulehnen, ist für einen Bewerber verkraftbar. Jemandem das Potenzial für etwas auf der Basis eines validen Instrumentariums abzusprechen, ist eine völlig andere Qualität - und im Grunde eine direkte psychische Attacke, deren Legitimität ausgesprochen fraglich ist.

Feedback ist demgegenüber eine Information an eine andere Person über Effekte ihres Handelns in meinem Milieu. Es dient der Verbesserung der Zusammenarbeit mit Anderen, die mein Milieu beeinflussen.

Dabei stelle ich Zusammenhänge zum Andern her, indem ich dessen Verhaltensweisen beschreibe und Effekte dieses Verhaltens in meinem Milieu benenne. Ich bewerte oder kritisiere jedoch die andere Seite nicht, sondern beschreibe meine Situation mit dem Bewusstsein, dass sowohl ich als auch der Andere aus unserer jeweiligen Position heraus eine notwendig begrenzte Sicht auf das jeweils andere Milieu haben.

Es ist in der Regel nützlich zu unterstellen, dass der Andere diese Information nicht von vorneherein hat, vielleicht sogar nicht haben kann. Es ist sinnvoll, diese Information unterstellungsfrei und präzise zu geben. Feedback dieser Qualität ist notwendig, um Prozesse zu steuern und zu optimieren. Je weniger Beurteilung und Bewertung des Partners dabei ins Spiel kommen, desto unbefangener kann die Information gegeben und angenommen werden. Deshalb ist dieser Kommunikationsmodus adäquat für hierarchie- oder schnittstellenübergreifende Rückmeldungen. Der Feedback-Modus ermöglicht echte Iteration.

Feedback hat folgende Struktur:

  • Beschreibung von wahrgenommenen Sachverhalten/Verhaltensweisen;
  • Auswirkungen in meinem Milieu (keine Gefühle und Bewertungen, sondern Fakten);
  • Formulierung von Interessen, Bedürfnissen, Angeboten und gegebenenfalls Konsequenzen für den Feedbackgeber.

Dieser Kommunikationsmodus, der der so genannten „Ich-Botschaft“ entspricht, wird häufig missverstanden und mit der Äußerung von Gefühlen (vor allem negativen Gefühlen) im Rahmen konflikthafter Auseinandersetzungen verwechselt. Gerade Gefühls-Begriffe wie Ärger, Wut, Verletzung etc. beinhalten jedoch oft einen Rückfall in den Urteilsmodus, denn sie sind wertend und unterstellen sogar indirekt eine Täterschaft. Sie haben daher meist eine subtil angreifende Konnotation „Das stört mich“ oder „Ich ärgere mich“ sind kein Feedback im oben beschriebenen Sinn, sondern affektive Bewertungen von Effekten in meinem Milieu.

Feedback im oben gemeinten Sinn informiert über diese Effekte unter explizitem Verzicht auf Kritik, Unterstellungen und Attacken.

Beispiele

Wenn zum Beispiel ein Arbeitsergebnis für einen Kunden nicht zureichend ist, kann dies unbefangen und vor allem unterstellungsfrei beschrieben werden, verbunden mit einer klaren Information über das, was gebraucht wird. Eine Kritik an der Leistung (Anstrengung, Kompetenz…) der „liefernden Seite“ ist abträglich, weil der Adressat der Kritik erst die Attacke auf seinen Selbstwert verwinden muss, bevor er in den Optimierungsprozess einsteigen kann. Diese Energie ist nicht produktiv eingesetzt. Je komplexer die zu gestaltenden Prozesse, desto schwieriger ist es, den Kontext und die Situation des jeweils andern Milieus wirklich einschätzen zu können.

Wenn Schüler aufgefordert werden, ihre Lehrer zu beurteilen, werden sie zur Anmaßung eingeladen. Sie erheben sich über den Lehrer, indem sie diesen diagnostizieren. Wenn dagegen 9 von 10 Schülern angeben, etwas nicht verstanden zu haben, ist dies steuerungsrelevantes Feedback. Der Lehrer weiß dann, dass er besser oder anders erklären muss. Die Schüler einzuladen anzukreuzen, ob ihr Lehrer gut oder schlecht erklärt, ist ein davon deutlich unterschiedener Vorgang. Es handelt sich um ein Fremdbild mit Aufforderung zur Beurteilung. Dieser Vorgang ist kränkend und für die pädagogische Beziehung katastrophal.

Zusammengefasst

Beurteilung/Fremdbild
A spricht über B
Feedback
A spricht über A
Ziele: Entscheidung nach Diagnose, Selektion, Platzierung (nicht auf Zielerreichung bezogen rückwärts gewandt) Ziele: Intervention durch Information, Prozesssteuerung (auf Zielerreichung bezogen vorwärts gewandt)
Wirkung: Auf- oder Abwertung von B, emotional bedeutsam (Prüfung der Person) Wirkung: veränderte Informationsgrundlage für B, emotional neutral (Monitoring des Prozesses)
Kommunikationsmodus: Du-Botschaft Beschreibung und Bewertung von Qualitäten und Verhaltensweisen von B Kommunikationsmodus: Ich-Botschaft, Beschreibung von Effekten, Zuständen und Interessen von A
Verhaltensbeschreibung von B zur Legitimation von auf B bezogenen Entscheidungen Verhaltensbeschreibung von B nur zur Klärung und Steuerung von Effekten bei A
Abgleich: mit impliziten Kriterien aus Zone B, die expliziert und als beurteilbar unterstellt werden Abgleich: mit Kriterien ausdrücklich aus Zone A, die möglichst verständlich expliziert werden

Risiken von Beurteilungssystemen (genauer: Fremdbildaustauschsystemen) und Alternativen dazu

Je komplexer die zu gestaltenden Prozesse, desto weniger ist es möglich, dass eine Seite den Kontext, die Situation des jeweils andern Milieus wirklich einschätzen kann. Feedback wird bei steigender Komplexität immer wichtiger, dagegen das Urteil immer kontraproduktiver.

Das Risiko fehlgeleiteter Iteration

Weil in Abhängigkeitsverhältnissen eine gute Beurteilung zur Überlebensfrage wird, entsteht ein Sog, Rückmeldung auf der falschen Ebene zu geben mit der Folge eines hohen Risikos für die Prozesse durch Vertuschung und Scheinproduktion. Durch den Druck der Beurteilung wird die allgemeine Anstrengung erhöht (als Folge von Angst) – aber die Energie richtet sich stärker darauf, ein positives Urteil zu erhalten als darauf, tatsächlich den Prozess zu verbessern.

Ein eindrückliches und viel zitiertes Beispiel schildert Fritz Simon in „Gemeinsam sind wir blöd“ (erschienen 2004 im Carl-Auer-Verlag, S. 39): Nach einer Hungersnot in den 50er Jahren wurde in China 1959 eine Landwirtschaftskampagne gestartet. Die erste Ernte nach der Kampagne fiel gut aus und wurde - wie in einem Unternehmen - in Zielvereinbarungen mit den Kadern als Standard fixiert. Die Kader wurden sodann am Grad der Zielerreichung gemessen. Diese Koppelung von Standard, Zielvereinbarung und Beurteilung führte zu einer Katastrophe. Unter dem Druck der Beurteilung wollten die Kader vor allem eines - ‚gut aussehen’. Also gaben sie kein Feedback im Sinne echter Rückmeldung, sondern schönten die Ergebnisse und ließen Lebensmittel in den Speichern für den Fall, dass sie kontrolliert würden. Sie täuschten ihren Vorgesetzten die Zielerreichung vor und bogen die Ergebnisse zurecht. Ergebnis: 30 Millionen Hungertote.

Ein weiterer Nebeneffekt tritt hinzu: Menschen neigen spontan dazu, negativ über Andere zu urteilen, wenn sie selbst durch deren Handeln von Nachteilen betroffen werden können, und zwar sogar dann, wenn die handelnde Seite von diesen möglichen Nachteilen gar nichts ahnt oder ahnen kann.

Gern wird dann der Kooperationspartner als „unfähig“ tituliert, erst recht, wenn er hierarchisch auch noch über einem steht. Statt die eigene Situation gut zu kommunizieren, werden Empörungsgemeinschaften gebildet, wird die jeweils andere Seite kritisiert und attackiert, was prompt Verteidigungsreaktionen und Blockaden erzeugt. Auch diese Vorgänge führen zu fehlgeleiteter Iteration, weil substanziell wichtige Informationen zwischen Schnittstellen und verschiedenen hierarchischen Ebenen überhaupt nicht mehr fließen, sondern stattdessen die Wertung (ohne Inhalt) kommuniziert wird.

Echte Iteration bedeutet demgegenüber, das Ergebnis einer (Regel)Anwendung zurück in den Prozess zu speisen, nicht das Urteil über das Ergebnis. Selbst wenn die andere Seite tatsächlich „unfähig“ ist, wird sie durch Iteration eher lernen als durch das Urteil, das keine qualitativ wertvolle Information beinhaltet, sondern lediglich eine Bewertung über das Ausmaß des Problems.

Das Risiko sinkender Validität durch Differenzierung am falschen Punkt

Urteile müssen sein, wo Entscheidungen getroffen werden müssen. Ein valides Urteil setzt beim Urteilenden Kompetenzen und Kenntnisse des zu beurteilenden Gegenstandsbereichs voraus. Beurteilung wird jedoch auch gebraucht, wenn diese Kompetenz nicht gegeben ist. Wenn eine Entscheidung fallen muss, ist das Urteil - eine „Bewertung“ der Person /ihres Verhaltens - logisch vorausgesetzt.

Wenn möglich sollten nur Personen urteilen, die im fraglichen Feld dazu wirklich in der Lage sind. Wenn dies nicht gegeben ist, wird oft versucht, die mangelnde Urteilsfähigkeit durch Differenzierung auszugleichen. Differenzierung bei mangelnder Kenntnis senkt jedoch die Validität eher, als sie zu heben.

Dazu ein Beispiel: Die Aussage von vielen Mitarbeitern, ob sich jemand, mit dem sie Arbeitserfahrung haben, grundsätzlich als Vorgesetzter in einem komplexen Arbeitsfeld eignet oder nicht, ist vermutlich halbwegs valide, weil im Gesamturteil sehr viele unterschiedliche Facetten zum Tragen kommen. Weniger valide dürfte es demgegenüber sein, wenn ein differenzialdiagnostischer Anspruch aufgebaut wird (z.B.: Potenzialeinschätzung in verschiedenen Kategorien). Viele können sagen: Dieser Geiger spielt gut. Wir sollten ihn hier bei uns auftreten lassen. Wenige können gut/schlecht differenzieren hinsichtlich Bogenführung, musikalischer Gestaltung, Intonation etc. Die Differenzierung taugt zur Reflexion. Ob sie das Urteil valider macht, ist fraglich.

Das Risiko von Kultur- und Personbeschädigung

Assessment Center zum Zweck der Bestenauslese für eine spezifische Position sind - auch bei komplexen Aufgaben - anderen Verfahren oft überlegen. Hier wird eine Jury-Entscheidung durch sozialen Vergleich beim Probehandeln getroffen, bei der einer gewinnt und andere verlieren. Da eine Entscheidung getroffen werden muss, ist ein Beurteilungsverfahren sinnvoll.

Eine Besten-Auswahl in einem solchen Prozess ist aber nicht gleichbedeutend mit einer generellen Aussage über die Eignung oder gar Potenziale von Personen. Unter anderen Bedingungen wäre eben jemand anders der Beste. Über Eignung wird keine direkte Aussage gemacht. Dies ist für die psychische Verarbeitung des Vorgangs auf Seiten der abgelehnten Bewerber keinesfalls unerheblich. Der Kontext geht in die Attribuierung ein.

Vollkommen anders wirken hingegen Ablehnungen bei Assessment Centern, die den Anspruch erheben, ein Potenzial (etwa Führungspotenzial) zu messen. An diesen Anwendungsbereich von Assessment Centern sind kritische Fragen zu stellen. Zunächst ist fraglich, ob zentrale Aspekte von Führungsfähigkeit, die mit der langfristigen tragfähigen Gestaltung von Arbeitsbeziehungen zusammenhängen, im Assessment Center überhaupt sichtbar werden können. Aber würde mehr Validität es besser machen? Eine Potenzialeinschätzung ist eine direkte, sehr tiefgreifende Aussage über die Person. Deshalb wirken Ablehnungen hier massiv. Kategorien wie Glück oder Pech, die in der Bestenauslese psychisch entlastend sind, haben umso weniger Raum, je mehr Gültigkeit das Verfahren für sich in Anspruch nimmt. Die Auswirkung einer solchen Aussage auf die Person ist so gravierend, dass dieses Verfahren eine sorgfältige Legitimation (wozu?) und den expliziten Wunsch der Person nach entsprechender Information (will ich es wissen?) voraussetzt.

Aber auch die ‚normalen’ Mitarbeiter- Beurteilungssysteme haben es in sich. Während in männlich dominierten Unternehmen Beurteilungssysteme noch einigermaßen „weggesteckt“ werden, weil sie „sportlich“ betrachtet werden, kann ihr Einsatz in weiblich dominierten Organisationen fast schon als Kunstfehler gelten.

Während Jungen in ihren Spielen Hierarchie verhandeln, geht es in den Spielen von Mädchen um Nähe und Distanz. Frauen haben andere Attribuierungs-Schemata im leistungsthematischen Bereich als Männer. Während diese positive Rückmeldungen sich selbst zuschreiben und Misserfolge als Pech einordnen, attribuieren Frauen umgekehrt: Sie schreiben Niederlagen sich selbst zu und Erfolge den äußeren Umständen. Beurteilen Frauen einander, was einem hierarchischen Kommunikationsmodus entspricht, und fällt diese Beurteilung nicht positiv aus, wird dies im Leistungsbereich als Versagen erlebt, im Beziehungsbereich als persönliche Ablehnung. Die Folgen sind absehbar.

Eine unreflektierte Einführung von Beurteilungssystemen in weiblich dominierten Arbeitsfeldern wie Schulen, Erziehungswesen und Kliniken dürfte für das Arbeitsklima entsprechend katastrophale Auswirkungen haben. Wird - wie in einzelnen der Autorin bekannten Organisationen - dies noch durch die abschätzige Botschaft gekrönt, dass eine ordentliche, durchschnittliche Arbeitsleistung mit „Schulnote 3“ zu bewerten ist, und wird ferner der methodische Lapsus begangen, in Teams mit 5 Personen die Gaußsche Normalverteilung einzuhalten und auf diese Weise „Low Performer“ als reines Artefakt zu erzeugen, sind die psychischen Katastrophen nicht mehr aufzuhalten. Wie viele Leistungseinbrüche, psychische Krisen und Fehlzeiten auf das Konto solcher Verfahren gehen, ist uneinschätzbar.

Feedbacksysteme konstruktiver gestalten

Feedback und Beurteilung sind in der Praxis und im Gespräch oft schwer voneinander trennbar. Wird der Kommunikationsmodus jedoch durch Systeme „multipliziert“, ist an die Auswahl von Items und Kategorien eine höhere Anforderung zu stellen als in der spontanen Kommunikation.

Feedbacksysteme (360 Grad Feedback) und Mitarbeiterbefragungen sollten strikt im Modus von Ich-Botschaften durchformuliert werden. Die Angst vor Feedback sinkt dann deutlich, Anonymität wird überflüssig.

Ein Beispiel für diesen Befragungsmodus liefert die Gallup-Studie von Marcus Buckingham und Curt Coffman (First, Break all the Rules 1999. Dt: Erfolgreiche Führung gegen alle Regeln, Wie Sie wertvolle Mitarbeiter gewinnen, halten und fördern): Aus Befragungsergebnissen mit Hunderttausenden Probanden wurden 12 Fragen identifiziert, deren positive Beantwortung in direkter Beziehung zu wirtschaftlichem Erfolg steht.

Diese Fragen sind:

  1. Weiß ich, was bei der Arbeit von mir erwartet wird?
  2. Habe ich die Arbeitsmittel und Materialien, um meine Arbeit richtig zu machen?
  3. Habe ich bei der Arbeit jeden Tag die Gelegenheit, das zu tun, was ich am besten kann?
  4. Habe ich in den letzten 7 Tagen für gute Arbeit Anerkennung und Lob bekommen?
  5. Interessiert sich mein/e Vorgesetzte/r oder eine andere Person bei der Arbeit für mich als Mensch?
  6. Gibt es in der Arbeit jemanden, der mich in meiner Entwicklung unterstützt und fördert?
  7. Habe ich den Eindruck, dass bei der Arbeit meine Meinungen und Vorstellungen zählen?
  8. Geben mir die Ziele und die Unternehmensphilosophie meiner Firma das Gefühl, dass meine Arbeit wichtig ist?
  9. Sind meine Kollegen bestrebt, Arbeit von hoher Qualität zu leisten?
  10. Habe ich innerhalb der Firma einen sehr guten Freund?
  11. Hat in den letzten 6 Monaten jemand in der Firma mit mir über meine Fortschritte gesprochen?
  12. Hatte ich bei der Arbeit bisher die Gelegenheit, Neues zu lernen und mich weiterzuentwickeln?

Es fällt auf, dass diese Items im Feedback- und nicht im Beurteilungsmodus formuliert sind (Ich-Botschaften). Liest ein Vorgesetzter, dass seine Mitarbeiter nicht wissen, was von ihnen erwartet wird, ist dies für ihn unmittelbar steuerungsrelevant.

Der vermessene Mensch: Beurteilung der Person zurückfahren

Im Messen der Person gehen Unternehmen oft zu weit. Nicht was die Person tut oder leistet, ist mehr Gegenstand der Betrachtung, sondern wie sie ist. So gewinnt der gegenwärtig allseitig spürbare Trend, Menschen umfassend in ihren Eigenheiten und Potenzialen zu diagnostizieren, auf subtile Weise totalitären Charakter.

Die hier geäußerten Bedenken gegenüber einem sich zunehmend ausbreitenden Mainstream der Mitarbeiterevaluation entspringt dem Unbehagen darüber, dass der Mensch in den geschilderten Systemen nicht nur selbst vermessen, sondern zudem ohne jede Not zum Urteilen über Andere eingeladen, zur Anmaßung des Urteils und zur Vermessenheit verführt wird.

Sollte man deshalb generell auf Beurteilungssysteme verzichten?
Sicher nicht dort, wo Beurteilung sein muss und ein gutes System der ‚Nasenauswahl’ überlegen ist (zum Beispiel bei der Besetzung einer konkreten Stelle), wo Menschen sich dem Urteil aussetzen möchten, um wahrgenommen, von Dritten „bezeugt“ zu werden (zum Beispiel zur Erreichung eines Zertifikats unter Verzicht auf den Poolgedanken).

Aber vielleicht doch dort, wo Beurteilungen nicht wirklich gebraucht werden.
Und das ist überall der Fall, wo man nicht entscheiden, selektieren und platzieren muss, sondern gute hierarchieübergreifende Kommunikation, gute Zielkommunikation und echtes Prozessfeedback für eine tatsächliche Optimierung von Prozessen und Eigenverantwortung braucht. Also meistens.